Beteiligung an der aktuellen Diskussion um koloniales Kunst- und Kulturgut

Details aus dem Indienschrank der Wunderkammer: ein reich verziertes Götzenkästlein neben einem nindischen Schuh und einer Puppe

In ihrer barocken Kunst- und Naturalienkammer präsentieren die Franckeschen Stiftungen 92 Objekte, die aus dem südöstlichen Indien stammen. Im Archiv werden zudem 318 Palmblattmanuskripte in den südindischen Sprachen Tamil und Telugu aufbewahrt. All diese Objekte sind über die Dänisch-Englisch-Hallesche Mission im 18. Jahrhundert nach Halle gelangt. Hinzu kommen 52 ethnographische Objekte von Borneo, die zwei Missionare in den 1840er Jahren den Franckeschen Stiftungen geschenkt haben. Diese werden in der Kunst- und Naturalienkammer in einem eigenen Schrank präsentiert.

Ab 1706 arbeiteten hallische Theologen in der dänischen Handelsniederlassung Tranquebar, heute Tharangambadi im indischen Bundesstaat Tamil Nadu. Im Lauf der Zeit dehnte sich ihr Arbeitsgebiet auch über die von Engländern kontrollierten Gebiete Südostindiens aus. Insgesamt arbeiteten zwischen 1706 und 1845, dem Ende der Halleschen Mission, 56 Missionare in Indien. Im Zuge des Wissenstransfers von Indien nach Halle sandten diese auch Objekte für die Kunst- und Naturalienkammer dorthin, sowohl ethnologische bzw. Alltagsobjekte sowie religiöse Objekte aus dem hinduistischen Kontext, die im sogenannten »Indienschrank« präsentiert werden, als auch naturkundliche Objekte, die sich in den Naturalienschränken befinden (Mineralien, Konchylien, Tierpräparate). Aus der Korrespondenz zwischen Indien und Halle, die sich umfangreich im stiftungseigenen Missionsarchiv befindet und wissenschaftlich erschlossen sowie öffentlich zugänglich ist, wissen wir bei den meisten Objekten, wie diese an die Missionare gekommen sind, nämlich durch Kauf oder Schenkung. Einige Objekte, z.B. Tierpräparate oder Palmblattmanuskripte, wurden auf Veranlassung der Missionare oder von ihnen selbst (Tierpräparate) angefertigt. Manche Objekte und deren Schicksal wurden sogar in den von den Franckeschen Stiftungen ab 1710 herausgegebenen Halleschen Berichten, der ersten protestantischen Missionszeitschrift, dokumentiert. Da diese Zeitschrift nicht nur über die Mission berichtete, sondern auch eine einzigartige Informationsquelle zur Kultur und Gesellschaft sowie Flora und Fauna Südostindiens im 18. Jahrhundert darstellt, können sämtliche Ausgaben heute über uns eingesehen werden.

In einem Festvortrag aus Anlass der Eröffnung der Kabinett-Ausstellung »Missionsauftrag und Forscherdrang. Bartholomäus Ziegenbalg, erster lutherischer Missionar in Indien« in den Franckeschen Stiftungen am 10. Mai 2019 fokussierte die Germanistin und ausgewiesenen Expertin für die frühen Berichte der Dänisch-Halleschen-Mission Frau Prof. (em.) Dr. Rekha V. Rajan (Hyderabad, Indien) auf den Blickwinkel der indischen Gesprächspartner des Missionars Ziegenbalg, den sie aus dessen Berichten für die europäischen Unterstützer der Mission herausgearbeitet hat. Der Vortragstext gibt einen Einblick in die zeitgenössische Wahrnehmung der Mission bei der indischen Bevölkerung. Dieser Einblick ist besonders deshalb wichtig, weil die Berichte der Missionare des 18. Jahrhunderts in der Regel die europäischen Sichtweisen auf Indien reproduzieren und die »indischen Stimmen« darin nicht zu Wort kommen.

Nach ihrer Wiedergründung 1991 haben die Franckeschen Stiftungen wieder Verbindungen nach Tamil Nadu geknüpft und vor allem zur Tamil Evangelical Lutheran Church (TELC), die sich 1919 aus der Mission heraus als eigenständige Kirche gegründet hat, Kontakt aufgenommen. Dies führte zu einer vielfältigen Kooperation bei Forschungs- und Ausstellungsprojekten. So wurde von den Franckeschen Stiftungen in Partnerschaft mit der TELC und weiteren Partnern in Deutschland im Wohnhaus des ersten hallischen Missionars in Tranquebar, Bartholomäus Ziegenbalg, ein Museum zur Geschichte des interkulturellen Dialogs zwischen Indien und Europa eingerichtet, das 2017 eröffnet wurde. Dieses Museumsprojekt wird auch weiterhin von den Stiftungen und ihren Partnern betreut.

Diese Sammlungen stehen in dem spezifischen kolonialen Kontext des 18. Jahrhunderts. Dieser ist jedoch nicht mit dem imperialen Kolonialismus des (späten) 19. und frühen 20. Jahrhunderts gleichzusetzen. Im Leitfaden zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten des Deutschen Museumsbundes wird auf diesen Sammlungstyp des 18 Jahrhunderts nicht näher eingegangen. Hier besteht Forschungs- und Diskussionsbedarf. Die Franckeschen Stiftungen planen, sich in dieses gerade entstehende Feld aktiv einzubringen.