Das Ziegenbalg-Haus

Ein Museum für den interkulturellen Dialog in Tharangambadi

Das Ziegenbalg-Haus in Tharangambadi (Tamil Nadu) ist ein Gemeinschaftsprojekt der Franckeschen Stiftungen in Halle, des Evangelisch-Lutherischen Missionswerks in Niedersachsen und der Tamilisch Evangelisch-Lutherischen Kirche (TELC) mit Hilfe vieler Partner:innen in Indien und Europa. Es ist ein Ort des Austauschs zwischen den Bewohner:innen (Hindus, Christen, Muslime) des ländlichen Raumes und den Besucher:innen aus Indien und Europa.

Ausgangspunkt für das Projekt sind die Begegnungen zwischen den halleschen Missionaren der ersten protestantische Mission und der tamilischen Gesellschaft. Umfassende schriftliche, aber auch gegenständliche Quellen sind in Indien und Europa davon überliefert. In den Franckeschen Stiftungen sind sie im kulturhistorischen Archiv und in der Kunst- und Naturalienkammer heute wieder allen Interessierten zugänglich. 

aktuelle Projekte

Ein »Indien-Schrank« in der halleschen Wunderkammer und ein »Deutschland-Schrank« im Museum in Tharangambadi

Ein Kunstprojekt der Kunststiftung des Landes Sachsen-Anhalt

2019 begrüßten wir Asma Menon in den Franckeschen Stiftungen. Gemeinsam mit der Kunststiftung des Landes Sachsen-Anhalt und organisiert von Jasmin Eppert, der Projektleiterin des Museums für den interkulturellen Dialog in Tharangambadi, haben wir sie für ein spannendes Kunstprojekt nach Halle eingeladen. Drei Monate lang tauchte Asma in die Stadt ein, bereiste Deutschland und traf neue Freunde und alte Bekannte. Aus den vielen Begegnungen wählte sie Objekte für einen »Deutschland-Schrank« im Museum für den interkulturellen Dialog im Ziegenbalg-Haus in Tharangambadi aus. Ihre Vorgänger waren die halleschen Missionare, die im 18. Jahrhundert die Kultur und den Alltag im damaligen Tranquebar kennenlernten. Ihre (für den europäischen Blick) wissenswerten und kuriosen Entdeckungen schickten sie regelmäßig an das Hallesche Waisenhaus. Hier ist ein ganzer »Indien-Schrank« Teil der Wunderkammer. Inspiriert von dieser Geschichte ist nun ein »Deutschland-Schrank« in Tharangambadi entstanden.

Asma Menon steth vor dem Indienschrank der Wunderkammer. Auf einem Tisch neben ihr stellt sie die Objekte für den Deutschlandschrank inTharangambadi vor.
Im Museum im Ziegenbalghaus in Tharangambadihat Asma Menon zwei Sammlungsschränke mit Kuriositäten aus Deutschland gestaltet.
  
Ein »Deutschlandschrank« in Indien? Wir haben Asma Menon gefragt, warum und wie sie gesammelt hat.

Das Interview führte Jasmin Eppert, 2013-2020 Projektleiterin des Museums für den interkulturellen Dialog im Ziegenbalghaus in Tharangambadi

Ein Wunderkammerschrank in Tharangambadi. Haben Sie sich über diese Projektidee gewundert?
Ich bin zu Hause in einer Großfamilie aufgewachsen, die viele interntionale Kontakte hatte. Es gab bei uns auch einen Kuriositätenschrank. Dieser war überwiegend mit Porzellanobjekten gefüllt, sowohl antiken als auch zeitgenössischen aus England, Japan (Mein Großvater führte Geschäfte mit Japan), Deutschland (die Schwester meines Vaters besuchte es einige Male), Australien und Neuseeland (das mein Vater besucht hatte). In dem Schrank waren auch Gegenstände ausgestellt, die von unseren Gästen aus Übersee als Geschenk mitgebracht wurden. Das Konzept war mir also nicht fremd. Der Ansatz schon.
Als ich von dem Projekt hörte, las ich als erstes die Geschichte der Wunderkammern auf Wikipedia nach. Deutschlands Geschichte der Wunderkammern ist sehr reich. Nebenbei habe ich den Franckeschen Stiftungen mitgeteilt, dass die Kunst- und Naturalienkammer im Historischen Waisenhaus nicht im Wiki gelistet ist. Das sollte sich ändern und es sollte Tharangambadi einschließen.

Stellen Sie uns Ihre Familie vor?
Ich bin eine indische Künstlerin. Ich wurde in einer ismailitischen Familie geboren. Unser Imam ist Aga Khan. Unsere Familie lebt seit 125 Jahren in Madras. So sind wir Tamilinnen und Tamilen. Ursprünglich kamen meine Vorfahren von der anderen Seite des Chaiber-Passes und ließen sich in Gujarat in der Nähe von Rajkot nieder. Wir sind eine sehr kosmopolitische Familie mit vielen interreligiösen und globalen Ehen. Mein Urgroßvater, Janab Poppat Jamal, der von seinen Freunden liebevoll Poppat Bhai genannt wurde, kam nach Madras, um der schweren Dürre zu entkommen, die sein Dorf heimsuchte. Er war damals ein Teenager. Er arbeitete für die Stag Umbrella Company und später bei P.Orr & Sons, einer Handelskette, die Uhren vertrieb, im heutigen Myanmar.

Mein Urgroßvater war ein geachtetes Mitglied der ismailitischen Gemeinde (Jamaat). Er war ein Mann mit großen Visionen. Er arbeitete hart und gründete ein kleines Unternehmen. Sein jüngerer Bruder Moti und seine Cousine Zinna schlossen sich diesem expandierenden Unternehmen an. Mein Vater war der erstgeborene Sohn der zweiten Generationslinie. Meine Großmutter stammte aus der Familie Padamsee aus Mumbai. Sie ist bekannt für Theater- und Filmproduktionen. Vielleicht sind die kreativen Gene, die meine Geschwister und ich teilen, auf sie zurückzuführen. Meine Eltern förderten uns weiter.
Ich wollte immer Künstlerin werden. Meine Ausbildung unter Balan Nambiar in Bangalore begann, als ich etwa 10 Jahre alt war. (Wir lebten von 1971 bis 1977 in Bangalore). Nach der Schule trat ich dann in das Government College of Arts in Chennai ein. Im Alter von 38 Jahren kehrte ich zurück, um meinen Magister in Kunst zu machen.

Meine Kunst ist das, was man als zeitgenössische indische Kunst bezeichnen würde: figurativ und lebendig. Am anderen Ende des Spektrums stehen meine schwarz-weißen, monochromen Radierungen und Zeichnungen. Meine Themen sind vielfältig, darunter Wasser, Familie, Flora und Fauna, die in der Umgebung zu finden sind. Ich bin ein gefräßiger Leser, und so manches Mal erscheint beim Lesen ein visuelles Bild. Ich sammle diese Scherben. Dann betrachte ich sie in meinem Kopf und analysiere den Akkord, der mich getroffen hat. Ich schreibe meine Gedanken auf. Diese Referenzpunkte ergießen sich auf in ein Thema und ich schaffe. Ich stehe nicht auf Ängste. Die Welt ist voll von so viel Positivem - das bringe ich in meiner Arbeit zum Ausdruck. Kunst ist für mich nicht nur eine Leidenschaft.
Kunst ist meine Geliebte. Das Yin und Yang meiner Existenz ist meine Kreativität. Und ja, sie ist auch mein Beruf.

Was war Ihre Motivation, für drei Monate nach Deutschland zu gehen?
Diese Frage ist nicht ganz korrekt. Die Motivation ist das PROJEKT, nicht das Land. Auch der zeitliche Rahmen spielt keine Rolle.
Ich hörte zum ersten Mal von einer befreundeten Künstlerkollegin von dem Projekt. Sie hatte andere Verpflichtungen und war nicht in der Lage, für längere Zeit wegzufahren. Also fragte ich sie, ob es in Ordnung wäre, wenn ich mich für das Projekt bewerben würde. Sie stimmte zu und ich nahm den Kontakt zu Jasmin Eppert auf.
Die Sammlung in einem Kuriositätenschrank nur durch einen einzigen Sammler entstehen zu lassen, ist heute eine Pionierleistung. Ich war aufgeregt und erschrocken zugleich, als der Auftrag kam, dieses neuartige, von mir völlig unbearbeitete Gebiet in Angriff zu nehmen. Doch was gibt es Besseres, als seine Komfortzone der erprobten kreativen Methoden abzuschütteln? Es war, gelinde gesagt, aufregend, die Herausforderung zu entdecken.
Die Reise war sowohl im metaphorischen als auch im physischen Sinne eine wichtige Reise, um eine neue Landschaft, Kultur, Gesellschaft, Nahrung ... zu erleben. Es war die Öffnung aller Sinne.

Welche Orte haben Sie in Deutschland besucht? Welche Orte haben Ihnen am besten gefallen?
Ich bin Mitte August 2019 am Flughafen in Frankfurt/Main angekommen. Zusammen mit Jasmin Eppert fuhren wir mit dem Zug nach Leipzig. Ich besuchte kleine Orte in der Umgebung, wie Steudten, Uebigau, Delitzsch, Falkenberg, Liebenwerda, Naundorf und größere Städte wie Halle, Jena, Dresden, Bremen, Göttingen oder Frankfurt.
Jeder der Orte hatte seinen eigenen Charme. Es gab keinen Ort, den ich mehr als einen anderen mochte. Allerdings habe ich mich überall darauf gefreut, nach Halle zurückzukehren. Die Stadt habe ich während meines kurzen Aufenthalts als meine vorübergehende Heimat betrachtet. Heimat ist schließlich dort, wo das Herz ist.

Die Menschen in Halle habe ich als sehr einladend Fremden aus einer fremden Kultur gegenüber erlebt. In den Geschäften halfen mir die Leute, Etiketten zu lesen, sie zeigten mir, wie man eine Straßenbahnfahrkarte stempelt. Ich war mit Menschen zusammen, die Einfühlungsvermögen zeigten. Im Leben geht es nicht um die großen Dinge, es sind die kleinen Gesten, die eine ganzheitliche Beziehung aufbauen.

Meine Reisen habe ich mit dem Zug unternommen. Deutschland ist durch den Zugverkehr so gut vernetzt. Alle meine Züge waren auf die Minute genau pünktlich, außer einmal in Göttingen, als ein schwerer Sturm ausbrach. Züge haben ihren Charme, wenn man aus dem Fenster schaut und rät, wer in den kleinen Ortschaften und Häusern wohnt. Man kann Geschichten erfinden, indem man einfach nur die Landschaft betrachtet. Ja, das hat mir gefallen.

Hat die Reise Ihre Wahrnehmung eines anderen Landes verändert?
Reisen haben, zumindest für mich, nichts mit Wahrnehmung zu tun. Es geht um Wissen und darum, sich über die unzähligen Leinwände des Lebens zu informieren. Ein Puzzle ist eine vorgefasste Wahrnehmung, mit der Wahrnehmung kommt eine vorgefasste Erwartung. Ich kam, um die Neuheit meiner Umgebung zu empfangen und aufzunehmen und ich habe sie angenommen und bis zum Äußersten gelebt.
Das erinnert mich an ein Sufi-Zitat von RUMI : »Tauche heute von der Klippe dessen, was du weißt, in das hinein, was du nicht wissen kannst«. (Anm. Jasmin Eppert: Rumi (1207 - 1273): ein persischer Dichter, islamischer Gelehrter und Sufi-Mystiker des 13. Jahrhunderts aus Groß-Khorasan im Großraum Iran, der zu den meistgelesenen Schriftstellern des Nahen und Fernen Ostens, Südasiens und Nordamerikas gehört)

Sie haben in Halle mit Kindern im Krokoseum der Franckeschen Stiftungen gearbeitet. Gab es kein Sprachproblem?
Ich arbeite gerne mit Kindern in Indien. Die Franckeschen Stiftungen in Halle haben auf dem Gelände Schulen, einen Schulhort und das Kinderkreativzentrum Krokoseum für die Freizeit. Das war eine wunderbare Gelegenheit, mit Kindern zu arbeiten, die in einer anderen Kultur leben als der indischen. Viele von ihnen kommen selbst aus anderen Kulturen oder haben einen anderen kulturellen Hintergrund. Ich erzählte Friederike Lippold von meiner Idee, über einen kreativen Prozess mit den Kindern zu interagieren. So startete ich Workshops im Hort und dem Krokoseum.
Im ersten Workshop gestalteten wir Kolams, geometrische Muster aus Linien und Punkten, die miteinander verbunden und mit Farben und Blumen (bei Festen) geschmückt sind. Als das Diwali kam, fertigten wir Taschen an, die mit der Lampe (diya) und traditionellen Mustern aus Indien verziert waren.
Asita, Shian, Hasan, Sharmila, Betasa, Camlin sind nur einige der Kinder, die zu meinen Workshops sowohl im Krokoseum als auch im Hort kamen.
Kinder sind Kinder, voller Tatendrang und immer bereit für lustige Aktivitäten. Am bemerkenswertesten ist der Übergang, ein Deutscher zu sein, die Sprache zu sprechen und auf der gleichen Ebene zu interagieren. Sie haben ein zweifaches Zuhause. Die Kinder fühlten sich genauso wohl in der Sprache, der ihre Eltern entstammten, und in den Ritualen, die ihr kulturelles Fundament sind. Mögen sie in der Lage sein, dieses Gleichgewicht beizubehalten, während sie wachsen.  Die wenigen Male, die ich auf der Straße an Hasan vorbeikam, wünschte er mir immer respektvoll ein SALAM ALEIKUM. Und ich antwortete ihm genauso.

Zurück zu Ihrem Sammlungsauftrag: Wo und wie haben Sie sie gesammelt?
Wohin ich auch reiste, mein erstes Ziel war es, so hoffte ich, ein Stück für das Museum zu finden. Die Second-Hand-Läden in Halle waren eine Fundgrube. Ich ging jede Woche hin, um zu überprüfen, ob die Bestände neu zusammengetragen worden waren. Beim Durchwühlen der Kisten fand ich, nachdem ich um Erlaubnis gefragt hatte, Nuggets.

Die Objekte wurden aus der Sicht des Publikums, der Inder, ausgewählt. Sie mussten die Lücke eines Wortes, eines Spektrums aufzeigen und jedes Objekt musste einen Gesprächsanlass tragen. Von der Heimat über die Kirchen bis hin zum Transport und zu einer Lebensweise, die sich von der indischen unterscheidet.

Meine Lieblingsobjekte sind Wandteller, vor allem die von Rosenthal, oder das Räuchermännchen aus Seifen. Der Adventskalender der Franckeschen Stiftungen aus dem Laden im Infozentrum. Das Tüpfelchen auf dem i ist ein zeitgenössisches Wohnhaus, das auch eine Uhr ist.

Was ist für Sie nach dieser Reise »Deutsch«?
Was ist Deutsch? Ich habe nur einige Seiten von Deutschland besucht und erlebt. Meistens das, was einmal der Osten, die DDR war. Heute ist natürlich auch der ferne Osten zum Westen geworden.
Deutschland, das sind wie jedes Land die Menschen hier, mit denen ich zuerst interagiert habe, mit denen ich ein Gespräch führen konnte. Ein geerdeter Blick auf die Familie und ich habe eine Freundin gefunden. Zeit, Präzision, ein Ort für Dinge. Das neue multikulturelle Ethos, das sich durch die Kinder, mit denen ich gearbeitet habe, entfaltet. Sie sind die Zukunft. Dies sind meine persönlichen Ansichten.

Ein Jahr lang war Mercy Rethna aus Tiruchirappalli als Bundesfreiwillige bei uns in Halle. Sie arbeitete mit uns an der Webseite, reiste durch Deutschland und Europa, um ihr Indien vorzustellen und war regelmäßig Gast im Kinderkreativzentrum Krokoseum und dem Kinderhort August Hermann Francke.

Auf facebook versammelte sie eine ganze Fangemeinde um ihre Posts über Deutschland und Indien. Lernen Sie Deutschland aus ihrer Perspektive kennen!

(M)ein indisches Jahr in Deutschland

Vanakkam

Ihr seid ja alle Inder geworden, habe ich kürzlich lächelnd zu meinen deutschen Kollegen gesagt. Ich bin Mercy, komme aus Südindien und arbeite als Bundesfreiwillige in den Franckeschen Stiftungen. Gerade erlebe ich die Corona-Krise in Deutschland und über meine Familie in Indien. Ich bedaure sehr, dass die deutsche Kultur der Umarmung jetzt verschwunden ist. Die Menschen halten sehr viel Abstand und manchmal denke ich, ich bin in Indien! Wir in Südindien begrüßen uns mit Vanakkam. Wir legen die Hände vor der Brust zusammen und verbeugen uns leicht. Das passt eigentlich sehr gut für die Zeit der Kontaktsperre. Einen Handschlag gibt es bei uns nur bei offiziellen Treffen. Es ist seltsam für mich, an dem Ort, an dem ich gelernt habe, sehr sozial zu sein, jetzt soziale Distanz zu wahren. Wenn wir uns einmal auf der Straße begegnen, grüßen wir uns doch mit Vanakkam! Ich würde mich sehr freuen.

Fairtrade

Fairtrade! Ich hatte noch nie von diesem Konzept gehört, bevor ich nach Deutschland kam. Als ich mir kürzlich ein Kleid kaufte und Indien als Produktionsland auf dem Schild stand, war ich etwas schockiert über den Preis. Ich weiß, dass die Lebenshaltungskosten und auch die Löhne in Indien wesentlich niedriger sind als in Deutschland, aber dass die Kleidung in Deutschland dennoch so teuer verkauft wird, hätte ich nicht gedacht. Die BaumwolllieferantInnen bekommen in Indien zusammen mit den NäherInnen in den Fabriken am wenigsten Geld in der Produktions- und Lieferkette: nicht so beim Fairtrade-Konzept. Bei diesem Konzept werden alle Menschen, die an der Herstellung beteiligt sind, angemessen entlohnt. Die indischen ArbeiterInnen können dadurch ihre Kinder in die Schule schicken und ihre Rechnungen bezahlen. Meistens sind Fairtrade-Produkte teurer als konventionell hergestellte Produkte, aber sollte es uns das nicht wert sein? Ich finde schon und hoffe, dass das Fairtrade-Konzept noch weiter ausgebaut wird!

Kühe im Zoo

Haben Sie jemals Stiere gesehen, die einfach um Ihr Haus in Deutschland herumspazierten? In Indien kann man normalerweise Rinder und Ziegen überallhin laufen sehen. Manchmal sitzen sie auf der Straße und blockieren die Fahrzeuge. Wir warten dann, bis der Besitzer kommt und sie wegzieht. Zu meiner Überraschung habe ich noch nie einen Stier oder eine Kuh in Halle oder einer anderen Stadt in Deutschland auf der Straße gesehen, nur einmal im Zoo. Hier ist es ein Zootier oder ein Nutztier, das in einem Stall oder innerhalb eines Zauns lebt. In Indien leben sie mit uns. Wir haben ein besonderes Festival namens Pongal in Tamilnadu. 3 Tage lang feiern wir die Ernte. Ein ganzer Tag ist der Dekoration und der Feier der Rinder gewidmet. An diesem Tag gibt es auch an vielen Orten den Stierkampf Jallikattu, der seit über 1000 Jahren Tradition bei uns ist. Die Person, die es schafft, das wütende Tier zu kontrollieren, ist der Gewinner. So sind Rinder immer mit unserem Leben in Indien verbunden. Ich vermisse sie hier und wundere mich jedes Mal, wenn ich, um sie zu sehen, Eintritt dafür bezahlen muss.

Bitte Hände waschen!

Hände Waschen! Dieses Plakat hängt wegen der Corona-Pandemie jetzt im Eingangsbereich des Konvikts, in dem ich wohne. Seit März waschen wir unsere Hände, bevor wir hoch zu unserer Etage gehen. Seitdem fühle ich mich hier noch mehr wie zu Hause. In Indien ist es Teil unserer Kulturtradition, uns immer die Hände und Füße zu waschen, bevor wir in ein Haus gehen. In jedem Hauseingang steht dafür ein Eimer mit Wasser und ein Becher bereit. So habe ich es schon als Kind gelernt. Kommen wir aus einem Krankenhaus zurück, waren wir beim Friseur oder auf einer Beerdigung, können wir nicht direkt in das Haus gehen, sondern müssen durch den Hintereingang zunächst ins Bad uns waschen. Unsere Badezimmer sind immer im hinteren Teil des Hauses. Auch heute praktizieren viele InderInnen das noch. Wir jungen Menschen haben immer gefragt, was das soll. Wir haben dem keine Bedeutung beigemessen. Jetzt verstehe ich, dass schon unsere Vorväter auf diese Weise schädlichen Mikroorganismen den Eintritt ins Haus verwehrt haben. Und jetzt gibt es dieses Stück Zuhause auch in Deutschland! Das ist ein schönes Gefühl. Bleiben Sie gesund!

Vom Strom und der Würde des Menschen

Könnten Sie mit Kerzen kochen? In Deutschland habe ich in diesem ganzen Jahr nur einmal einen Stromausfall erlebt und auch dann nur für wenige Minuten. In Indien steht in der Zeitung, wann der Strom abgeschaltet wird. Damit kann man aber nichts planen, denn es kommt oft auch zu spontanen Stromausfällen für ein paar Stunden, manchmal auch für einen ganzen Tag! Die Menschen in Chennai erinnern sich noch an den Sturm Vardah im Dezember 2017. Ein ganzer Stadtteil hatte 14 Tage lang keinen Strom. Können Sie sich 14 Tage ohne Strom vorstellen und das sogar in einer Hauptstadt? Bei uns geht die Sonne jeden Tag gegen 6 Uhr früh auf und 18 Uhr abends unter. Wir lebten mit Kerzen, die Köchinnen in unserem Wohnheim kochten ohne Licht für uns. Zum Glück hatten wir einen Gasherd. In meinem Konvikt in Deutschland würden wir 14 Tage kalt essen, denn hier funktioniert alles mit Strom. Das ist riskant, finde ich. Mit Kerzen kann man schließlich nicht kochen! Damals aßen wir im Dunkeln und schwitzten die ganze Nacht, weil auch der Ventilator nicht mehr ging. In Tamilnadu ist es normalerweise um die 40 Grad Celsius warm und wir schalten den Ventilator oder die Klimaanlage ein, sobald wir unser Haus betreten. Als ich nach Halle kam, suchte ich vergebens eine Klimaanlage in meinem Wohnheimzimmer. Dafür gab es eine Heizung. Wofür brauchte man die? Ich war erstaunt und lernte die Heizung im Winter lieben!

Ich weiß es zu schätzen, dass die Stromversorgung in Deutschland so stabil ist, da ich es aus Indien anders kenne. Wir sollten alltägliche Dinge nicht als Selbstverständlichkeit ansehen, sondern sie würdigen. Vielleicht sind Sie sogar bereit, Projekte zu unterstützen, die die Stromversorgung in ärmeren Ländern fördern? Alle Menschen brauchen Strom für Licht zum Arbeiten und Lernen.

Wasser

Wasser! Es ist jetzt ein Jahr her, dass ich nach Deutschland gekommen bin und ich habe noch nie Probleme mit der Wasserversorgung gesehen. In Chennai, Indien, wo ich 5 Jahre lang gearbeitet habe, war dies nicht selbstverständlich. Es gab viele Vormittage, an denen wir kein Wasser zum Duschen hatten, weil der Lastwagen mit dem Wassertank an diesem Tag nicht gekommen ist. Selbst wenn man über Wasserleitungen im Haus verfügte, so war das Wasser manchmal braun gefärbt. Ich erinnere mich noch daran, dass es in meiner Kindheit auf den Straßen Wasserpumpen gab, bei denen die Frauen in einer langen Schlange anstehen mussten, um das Wasser zu holen. Jetzt haben diese Pumpen auch kein Wasser mehr . Wir verwenden Mineralwasser als Trinkwasser und Salzwasser für andere Zwecke. Auf diese Weise habe ich die Schwierigkeit gesehen, die mit einer richtigen Wasserversorgung verbunden ist. Nicht nur ich, sondern fast jeder Inder hat das Wasserproblem schon oft selbst erlebt. Wenn man reich ist, kann man sich Mineralwasser leisten und sollte es für alle Zwecke verwenden. Natürlich ist das Problem die große Bevölkerung des Landes, aber warum ist die Qualität des Wassers so schlecht? Es gibt keine Antwort, da sich die Verantwortlichen den Fragen nicht stellen. Deshalb war ich erstaunt, eine so gute Wasserqualität in Deutschland zu sehen und auch, dass es direkt aus den Leitungen entnommen und verwendet werden kann. Es ist so spannend, ein Land ohne Wasserprobleme zu sehen. Es war, als käme man in eine neue Welt mit genügend Wasser für alle!

Die deutsche Ordnung

Schon Ziegenbalg, der erste deutsche Missionar in Indien, verkörperte den typischen deutschen Satz: »Alles in Ordnung«. Er fand die tamilische Sprache mit den vielen Schriftzeichen sehr schön, sah allerdings das Problem, dass die Sprache ohne ein genaues Verfahren von Außenstehenden nicht gut erlernt werden konnte. So schrieb er die ersten Grammatikbücher, in denen er die Struktur der tamilischen Sprache erklärte. Dies ist eines der vielen Beispiele, das zeigt, wie sehr die Deutschen Struktur und Ordnung lieben. Ein anderes Beispiel in der Ordnung allerdings als eine Regel ausgelegt wird, ist die Tatsache, dass die Deutschen sich immer anschnallen, wenn sie Auto fahren. Sie machen es nicht immer freiwillig, aber die Aussicht auf Bußgelder bringen sie dazu, sich anzuschnallen. Mir ist auch aufgefallen, dass die Deutschen sehr viele Versicherungen haben. Viele Versicherungen sind wichtig, aber es gibt bestimmt auch Versicherungen, die man nicht unbedingt braucht. Aber auch diese Art der Ordnung in Form von Absicherung ist für Deutschland typisch. Ordnung ist in vielen Bereichen sinnvoll und regelt ein geordnetes Zusammenleben. In manchen Fällen könnten die Deutschen aber auch etwas entspannter sein und sollten nicht alles so ernst nehmen.

Maskenpflicht

Am Sonntag habe ich nach langer Zeit wieder einen Spaziergang gemacht. Ich habe meinen Mundschutz festgemacht und lief zu Fuß zu meinen Bekannten. Deutsche sind immer ordentlich und ich habe gelernt, dass man an einer roten Ampel warten muss, bis sie grün wird. In Indien würde man so nie über die Straße kommen! Hier ist es aber wichtig, weiß ich. Aber jetzt sah ich viele Menschen, die das nicht mehr beachteten. Ich starrte sie an und sie gingen trotzdem einfach bei ROT. Haben die Deutschen etwa ihre Gewohnheit geändert, dachte ich nach und lief weiter. Auf der Straße in Richtung Marktplatz sah ich viele Menschen. Keiner trug eine Maske. In Indien müssen wir jetzt eine Geldstrafe zahlen, wenn wir beim Verlassen des Hauses keine Maske tragen. Hier starrten die Leute jetzt MICH an – wegen der Maske.

Ich habe zwei Vorschläge: Ich gehe wie zu Hause bei Rot über die Straße, kein Problem. Wir tragen alle eine Maske, zum Schutz unserer Mitmenschen. Kein Problem, oder?

Ich vermisse Indien

Vermisse ich Indien manchmal? Ja, natürlich, insbesondere, wenn es um zufällige Treffen und Gespräche mit Menschen geht. Zum Beispiel können wir in Indien immer dann, wenn uns langweilig ist oder wir allein sind, einfach zu unseren Nachbarn nach Hause gehen und mit ihnen reden, uns entspannen, einen Kaffee trinken oder sogar mit ihnen zu Abend essen. Auch wenn ich zufällig an dem Haus unserer Verwandten oder Freunde vorbeikomme, kann ich jederzeit spontan hingehen und sie besuchen. Aber hier in Deutschland ist es ganz anders: Man geht nicht einfach grundlos zum Nachbarn. Bis heute kann ich einfach so meine Freunde in Indien anrufen und mich 3-4 Stunden lang mit ihnen unterhalten, sogar wenn Mitternacht bei ihnen ist. Hier kann ich zwar auch mit meinen deutschen Freunden sprechen, aber man weiß nie, ob sie noch einen Termin oder eine Verabredung an dem Tag haben. Ich möchte nicht erst einen Zeitpunkt mit meinen Freunden ausmachen müssen, wenn ich nicht gut gelaunt bin oder einfach etwas Gesellschaft möchte. Ich brauche meine Freunde, die jederzeit für mich verfügbar sind, so wie es in Indien ist. Ich habe das Gefühl, dass dies ein großer Unterschied zwischen den beiden Kulturen ist.

Freunde

Wie lange brauchen Sie, um jemanden seine/n FreundIn zu nennen? Als ich nach Deutschland kam, waren alle Menschen sehr nett zu mir. In der ersten Woche nach meiner Ankunft bekam ich eine Gitarre zum Spielen, einen schönen Spiegel, Jacken und viele, viele wichtige Dinge von meinen KollegInnen, die für meinen Aufenthalt in diesem Jahr nötig sein würden. Ich hatte schon viele StudentInnen aus meine Konvikt kennengelernt, Sie haben mich später sehr ermutigt und ich habe angefangen, Gedichte zu schreiben, bin unabhängig geworden, habe meine eigenen Entscheidungen getroffen und alles ausprobiert, was cool ist. Weil alle sehr nett zu mir waren, hatte ich gedacht, sie sind alle meine Freunde! Wenn wir uns in Indien ein oder zwei Mal treffen, sind wir FreundInnen und in ein paar Monaten beste FreundInnen. Aber hier?? Nach meinen 3 Monaten in Deutschland habe ich festgestellt, dass Deutsche viel Zeit brauchen darüber nachzudenken, ob eine Person ein/e FreundIn ist oder nicht. Ich stellte genaue Recherchen an und erhielt die Antwort, dass man 2 Jahre braucht, um ein/eFreundIn zu werden (nun bin ich aber nur für ein Jahr hier), bis dahin könnte ich ein/e Bekannte/r sein (für mich könnte eine Person, die ich auf der Straße treffe, ein/e Bekannte/r sein). Jetzt frage ich mich, wie lange brauchen Sie, um beste FreundInnen zu ermitteln? Was auch immer das Ergebnis Ihrer Überlegungen sein wird, ich finde, ich habe jetzt viele Freunde. Sogar Sie, die dies lesen. Für alle habe ich heute einen Gesundheitstipp aus Indien: wenn Sie einen kratzigen Hals und Husten haben, gurgeln Sie mit einer Tasse heißem Wasser gemischt mit 3-4 EL Salz. Tun Sie dies 5 Mal am Tag und drei Tage lang, dann werden Sie keine Schmerzen mehr haben. Dies tun wir meistens zu Hause in Indien, um zu verhindern, dass wir krank werden. Also lasst uns Freunde sein!

Vom Kümmern

Was ist los? Was passiert mit dem Toilettenpapier? Als ich nach Deutschland kam, war ich sehr erstaunt zu sehen, dass sich meine deutschen KollegInnen und FreundInnen um die Natur, die Umwelt und um ihre Mitmenschen sehr aufmerksam kümmern. Sie folgen den Gesetzen, halten Abstand und tragen in der Straßenbahn Masken. In Indien fährt niemand Fahrrad, hier sehe ich viele Menschen in der Stadt auf dem Fahrrad, egal ob junge oder alte Menschen. Viele haben einen Garten oder Balkon, auf dem sie ihre Pflanzen pflegen. Das kenne ich von zu Hause nur aus manchen Privathäusern. Für mich war auch das vegane Essen in Deutschland neu. Aus Indien kenne ich nur Vegetarier oder Nicht-Vegetarier. Jede/r hier ist immer aufmerksam, wenn sie zum Beispiel Eier aus Freilandhaltung und nicht aus Bodenhaltung kaufen. Ich war auch erstaunt, wie sehr sich die Menschen um mich gekümmert haben. Wegen der Pandemie konnte ich nicht mehr rechtzeitig nach Indien zurückfahren. Niemand lässt mich allein, auch in der Krise nicht. Meine KollegInnen rufen an, wir gehen zusammen spazieren, sie laden mich zum Essen ein oder bringen ein Stück Kuchen vorbei. Und jetzt befürchte ich, dass die Deutschen in der Corona Zeit nun doch auch kopflos werden. Immer, wenn ich in den Laden gehe, finde ich kein Toilettenpapier mehr! Ich frage mich, ob sie jetzt nicht mehr daran denken, wie viele Bäume für das Papier gefällt wurden? Kümmern sie sich jetzt nicht mehr darum, ob es auch für ihre Mitmenschen ausreicht?

Haben Sie es geschafft, eine Packung zu kaufen? Bitte verkaufen Sie mir eine Rolle.

Christine Bergmanns Bilderzyklus zu Schulmädchen in Südindien

Ergebnisse des Arbeitsstipendiums Halle-Tharangambadi der Kunststiftung des Landes Sachsen-Anhalt

Die hallesche Künstlerin Christine Bergmann reiste im September 2019 dank eines Stipendiums der Kunststiftung des Landes Sachsen-Anhalt nach Tharangambadi. Von dem Aufenthalt erhoffte sich die Malerin Einfluss auf drei ihrer Interessensgebiete: Farbe, Architektur und traditionelles Kunsthandwerk, insbesondere das Textile betreffend. Die Reise war zunächst als Inspiration gedacht. Vor Ort hat sie mit Kindern im Ziegenbalgmuseum einen Kunstkurs über Pop-up-Karten durchgeführt und einige der jungen Teilnerhmerinnen auf künstlerischer Spurensuche in den Schulklassen vor Ort wiedergetroffen. Von ihrer Reise erzählt sie:

Künstlerische Entwicklungen gehen nicht zwangsläufig mit bewussten Zielsetzungen einher nach dem Motto »Jetzt mache ich mal 3 Jahre genau das und das«. Thematische Hinwendungen ereignen sich einfach oder kristallisieren sich heraus und man schaut sich als Künstler quasi selbst dabei über die Schulter. So ging es mir mit der zunehmenden Vorliebe für Mädchen und Frauen in der Malerei schon vor dem Indienstipendium. Ich hatte eine unbestimmte Ahnung, dass die Indienreise motivisch eine Lösung bietet für »etwas«, das ich in Europa nicht ohne weiteres finden konnte.

Auf einer staubigen Straße gehen Kinder zur Schule.

Die Möglichkeit während des Stipendiums mit Grundschulkindern zu arbeiten, bot bereits einen unkomplizierten und ganz natürlichen Einstieg in die »künstlerische Betriebsspionage«. Besonders angetan hatten es mir jedoch die jugendlichen Schulmädchen, die mit ihren Schuluniformen, Affenschaukeln und bunten Schleifen allerorten das Straßenbild prägten, besonders in Tharangambadi, wo es ebenso viele Schüler und Schülerinnen gibt wie Einwohner.

Die Künstlerin Christine Bergmann steht inmitten einer lebendigen Schulklasse einer Mädchenschule.

Die Mädels sind natürlich wie alle Teenager auf der Welt: schüchtern und neugierig zugleich und am Ende auch gerne kess und ein bisschen frech. Nun wollte ich aber keinesfalls die Mädchen einfach so auf der Straße anquatschen, um Fotos von Ihnen zu machen. Das schien mir doch ungebührlich. So bat ich Jasmin Eppert, dass wir die hiesige Mädchen-Schule mit 1.500 Schülerinnen besuchen.

Gruppenfoto mit Künstlerin: Christine Bergmann in einer Mädchenklasse in Südindien

Ich hatte jedoch nicht geahnt, dass wir am Ende alle Klassen besucht haben würden, »damit die anderen nicht enttäuscht sind« wie uns die Lehrerin erklärte, die uns in jeder Klasse vorstellte. Eine Klasse ist mir spontan besonders am Herz gewachsen mit einer offensichtlich sehr beliebten Klassenlehrerin. Jasmin Eppert beeindruckte die Mädels mit ihrem Tamil. Sensationell war der Moment, in dem Jasmin den Mädchen einer Klasse mit blauen Schleifen auf Tamil sagte, ich würde ihre Haarschleifen so toll finden und total spontan ein Chor aus 60 Mädchen uns laut zurief: »Thank You Ma`am!« - Upps, als »Ma`am« hab ich mich bisher nie gesehen.

Die Reiseeindrücke von Christine Bergmann sind in ihrem Reiseblog nachzulesen. Im Sommer 2020 zeigte sie ihre Gemälde, die nach den Begegnungen mit den Schulmädchen in Deutschland (Öl auf Leinwand) entstanden sind, in einer Ausstellung im Historischen Waisenhaus.

Gemälde von Christine Bergmann mit Schulmädchen in Südindien

Stefan Schwarzer: Tharangambadi Reports

Ergebnisse des Arbeitsstipendiums Halle-Tharangambadi der Kunststiftung des Landes Sachsen-Anhalt

Ein weißer Gartenstuhl, gute Buntstifte und Papier, das zum Land passt. Mehr brauchte es nicht für Stefan Schwarzers Aufenthalt in Tharangambadi, Südindien. Einen Monat lang zeichnete er die Häuser der Kleinstadt am südindischen Ozean, sprach mit den Menschen und schrieb jeden Abend Tagebuch. Inspirationsquelle für die Gespräche waren die Berichte der Missionare der Dänisch-Halleschen Mission, veröffentlicht in den »Halleschen Berichten«. Und so fragte sich Schwarzer durch die Bevölkerung, was sie am liebsten tragen, wie das Wetter ist und wovon sie leben. In seinem Buch »Tharangambadi Reports« veröffentlichte er die Gespräche und setzte sie zu den historischen Quellen in Beziehung. Zusammen mit seinen Zeichnungen ist so ein wunderbares Bild der »Stadt der singenden Wellen«, wie Tharangambadi übersetzt heißt, entstanden, das die Geschichte des Ortes in die Gegenwart holt.

Zeichenblatt mit Formen und Farben aus Südindien, Bleistift auf Papier

Tagebucheintrag 05.10.2019

Barfuß durchlaufe ich das mit bunt bemalten Götterfiguren geschmückte Haupteingangstor des Tempels und betrachte die am Wegesrand sitzenden Händler [...]. Ich laufe erneut durch ein noch größeres Tor und betrete einen neuen Bereich des Tempels, der aus langen Säulengängen besteht. Überwältigt von der Farbigkeit der Ornamente und der Architektur, in Kombination mit der Lautstärke vieler Trommeln und Blasinstrumente verspüre ich großes Interesse, hier zu zeichnen. Einer Familienprozession folgend, gehe ich durch ein drittes Tor [...]. Jetzt betrete ich eine große Halle mit einem monumentalen Säulengang in der Mitte. [...] Intensiv riecht es nach verbranntem Holz, Weihrauch und anderen Harzen. Alle meine Sinne werden gleichzeitig überflutet. Ich setze mich spontan auf den Boden und beginne, bunte Fragmente der umgebenden Schreine abzuzeichnen. Wie in Trance tauche ich, Fragment für Fragment, in diese Atmosphäre ein. Zeitweise stehen Personen, die mich beobachten und befragen, neben mir. Als ich die fertige Zeichnung präsentiere, wird sie mir aus der Hand gerissen und staunend in der Gruppe herumgereicht. Zerknittert erhalte ich sie zurück.

Stefan Schwarzer zeichnet in seinem weißen Gartenstuhl an einer Straße in Tharangambadi. Ein Mann auf seinem Motorroller hält an und unterhält sich mit ihm.

Tagebucheintrag 11.10.2019

Ich bin seit Tagen im Ort unterwegs und erkenne zunehmend die täglichen Routinen der Einwohner. Zum Beispiel fährt ein Milchverkäufer auf seinem Motorrad meistens gegen zehn Uhr die Queens Street entlang. Zu dieser Zeit drehen auch die mir schon bekannten Bettler ihre Runden. Auf der Flucht vor der aufsteigenden Sonne rücke ich mit meinem Plastikstuhl näher und näher an die hinter mir liegende Mauer heran. Erst als mich die Sonne vollständig bestrahlt, beende ich, fast verbrannt meine Arbeit.

Am Nachmittag laufe ich auf der Mosque Street mit meinem Plastikstuhl an einer Baustelle entlang. Erstaunt sehen mir die Bauarbeiter hinterher. Vor einer leuchtend gelb und grün gestrichenen Moschee finde ich einen schattigen Platz zum Zeichnen. In der flirrenden Mittagshitze komme ich mit einem älteren Mann ins Gespräch. Er ist der Imam der hiesigen Moschee. Während in der Nähe die Ziegen in der Sonne grasen, spricht mich ein weiterer, weiß gekleideter Mann freundlich an. Sein Name ist Sultan. Er ist Besitzer des »Danish Shop« auf der Marktstraße und leidenschaftlicher Stadthistoriker von Tharangambadi. Interessiert an einem Treffen, bitte ich um seine Kontaktdaten.

Buntstiftzeichnung von Stefan Schwarzer

Tagebucheintrag 16.10.2019

In der Goldsmith Street entdecke ich ein verfallenes, traditionelles tamilisches Wohnhaus. Da es gerade nicht regnet, stelle ich meinen Stuhl kühn mitten auf die Straße und beginne mit meiner Zeichnung. Das zusammengefallene Ziegeldach lässt den Blick auf die Dachkonstruktion aus Bambusstämmen und die Ziegelsteinwände frei. Auf Nachfrage erfahre ich, dass dieses Haus nach dem verheerenden Tsunami im Jahr 2004 von den Bewohnern verlassen wurde. Auch ich verlasse jetzt fluchtartig meinen Platz, weil die ersten Regentropfen auf mein Papier fallen. Glücklicherweise entdecke ich in der Nähe die überdachte Einfahrt eines Wohnhauses, das nach dem Tsunami gebaut wurde. Von hier kann ich entspannt und von einer guten Position aus zeichnen. Von Minute zu Minute wird der Regen intensiver und ich rutsche mit meinem Stuhl immer weiter in die Garage hinein. [...] Dabei lerne ich auch den Nachbarn kennen, der aus Nepal stammt. Vor kurzer Zeit hat er sich ein Haus direkt am Meer gekauft, angstfrei vor einem weiteren Tsunami. [...] Auf dem Rückweg erkenne ich die Goldsmith Street nicht wieder. Die Straße hat sich jetzt zu einem »Goldsmith-Stausee« verändert und ich stapfe vorsichtig durch knöcheltiefes Wasser.

Buntstiftzeichnung von Stefan Schwarzer eines Hauses in Tharangambadi

G. GANESHAN, 59 Jahre, Teeverkäufer

In welcher Verbindung stehen Sie zu Tharangambadi? Dies ist mein Heimatort. Ich wurde hier geboren. Wie ist Ihr Leben in Tharangambadi? In der Vergangenheit hatte ich viele Schwierigkeiten, aber jetzt ist mein Leben besser, weil ich meinen eigenen Teestand habe.Wie ist ein normaler Tag für Sie von morgens bis abends? Jeden Tag wache ich früh morgens um 3 Uhr auf. Ich bereite zuerst heiße Milch für den Tee vor. Danach kommen viele Fischer, um einen Tee zu trinken und dann auf Fischfang zu gehen. Anschließend habe ich nicht mehr viele Kunden. Wenn es am Morgen regnet, fahren die Fischer nicht auf das Meer, und deshalb habe ich dann auch wenig Kunden an meinem Teestand. Wie war die Situation nach der Tsunami-Katastrophe von 2004? Nach dem Tsunami verloren viele Fischer ihr Zuhause und hatten eine Menge Probleme. Aber für die anderen Menschen hier war es noch schwieriger, weil sie keine Unterstützung von der Regierung bekommen haben. Viele haben durch den Tsunami ihr Wohnhaus und ihr ganzes Hab und Gut verloren. [...] Wie steht es um die Bildungschancen und die Zukunft für junge Menschen im Ort? Sowohl Jungen als auch Mädchen gehen von der ersten bis zur fünften Klasse zusammen in die St. Johns Grundschule. Von der 6. bis 12. Klasse gehen die Mädchen in die katholische St. Theresas Schule und die Jungen in die evangelische TELC-Bischof Johnson Schule. Nach ihrer Schulausbildung reisen einige von ihnen mit Hilfe von Agenturen ins Ausland, um dort die Universität zu besuchen oder dort arbeiten zu gehen. Beliebte Länder dafür sind zum Beispiel Singapur oder Malaysia. [...] Welches war die außergewöhnlichste Begegnung, die Sie mit Ihren Kunden erlebt haben? Während der »Diwali-Feiertage« im letzten Jahr kamen ein paar Touristen zu mir. Während sie an meinem Stand Tee tranken, lud ich Sie spontan zu mir nach Hause zum Abendessen ein.

Stefan Schwarzer sitzt auf der Treppe einen leuchtend gelben Hauses und zeichnet.

Tagebucheintrag 24.10.2019

Minuten später setze ich meinen Weg fort und begegne zahlreichen Schülern in ihren unterschiedlichen Schuluniformen. Einige erkennen mich wieder und grüßen mich im Vorbeigehen. Im Nieselregen erreiche ich die Marktstraße und setze mich regengeschützt unter einen Balkon. Vor mir tuckert, quietscht, hupt und faucht der morgendliche Berufsverkehr auf der mit Schlaglöchern übersäten Marktstraße. Die Rollläden von Sultans »Danish Shop« sind noch geschlossen. Schnell werde ich von aufmerksamen Passanten angesprochen. Einer von ihnen heißt Vijay und ist ein junger Fischer. Unmittelbar nebenan bemerke ich ein Gebäude, in dem sich eine Tankstelle befindet. Das Benzin wird hier literweise in Plastikflaschen verkauft und direkt in die Tanks gegossen. Gegen 9:00 Uhr öffnet Sultan seinen Laden und winkt mir dabei grüßend zu. Wenig später begegne ich einem Fotografen, der in der Nähe ein Studio betreibt. Ich erfahre von seiner Zeit als Angehöriger der indischen Armee, und wir verabreden uns zu einem weiteren Zusammentreffen. Sultan kehrt zurück und freut sich sehr über meine Zeichnung.

Was seit 2017 geschehen ist

Das Ziegenbalghaus wird Museum

Eine filmische Reise nach Tharangambadi

Unterwegs zwischen Burgkirchen, Halle und Tharangambadi fing der Dokumentarfilmer und Fotograf Heiner Heine die großen Schritte der Entstehung des Museumsprojekts ein. Neun Kurzfilme bieten die einmalige Gelegenheit, das tausende Kilometer entfernte Museum zu besichtigen und seine Entstehungsgeschichte kennenzulernen.

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Mit Trommeln und Girlanden

Jedes Jahr im Juli gedenken die Bewohner Tharangambadis der Ankunft der ersten lutherischen Missionare Bartholomäus Ziegenbalg (1682–1719) und Heinrich Plüschau (1677–1752) am 9. Juli 1706 mit einem Festumzug durch die Stadt. Zum 310. Jahrestag wurde das Museumsprojekt mit Trommeln und Girlanden gefeiert.

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Es begann in Tranquebar

Nach ihrer Ankunft suchten Ziegenbalg und Plütschau mit großem Interesse den Kontakt zu den Menschen vor Ort. Dies war der Beginn eines einzigartigen Dialogs, der bis heute fortwirkt.

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Der Himmel über Tharangambadi

Jasmin Eppert erzählt, wie Sie nach Tharangambadi fuhr, um gemeinsam mit den Partnern vor Ort das Museumsprojekt umzusetzen. Bis zum Frühjahr 2019 hat sie in der tamilischen Kleinstadt gelebt und gearbeitet.

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Zurück zur alten Pracht

In vier Arbeitsphasen wurde das Wohnhaus des Missionars Ziegenbalg denkmalgerecht und mit regionalen Baumaterialien restauriert. Bauleiter und Architekt der indischen Denkmalschutzorganisation INTACH (Indian National Trust of Art and Cultural Heritage) standen vor großen Aufgaben.

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Gedruckt in Tranquebar

Die Museumsbesucher pilgern heute nach Tharangambadi als Ort des Beginns der Druckkunst in Indien. Der Druckerraum im Ziegenbalg-Hhaus ist der bisher lebendigste interaktive Raum im Museum und löst bei den Besuchern aus nah und fern immer wieder Begeisterung aus.

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Die Stadt der singenden Wellen

Was ist Tharangambadi, an der Südostküste Indiens heute für ein Ort? Jasmin Eppert und Bewohner der tamilischen Kleinstadt führen durch »Die Stadt der singenden Wellen«.

Der Wiederaufbau des Ziegenbalghauses ist ein Kooperationsprojekt der Franckeschen Stiftungen mit der Tamil Evangelical Lutheran Church, dem Auswärtigen Amt, dem Evangelisch-Lutherischen Missionswerk in Niedersachsen und dem Evangelisch-Lutherischen Missionswerk Leipzig.