»Mancherley Nutzen und Ergetzung« – Gärten in den Franckeschen Stiftungen im 18. und 19. Jahrhundert

Eine virtuelle Kabinettausstellung aus der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen

Herbarblatt

Gärten für die Wirtschaft des Waisenhauses

Das in den Privilegien für das Hallesche Waisenhaus verbriefte Vorkaufsrecht für umliegende Grundstücke ermöglichte es August Hermann Francke (1663–1727) und seinem Sohn Gotthilf August (1696–1769) zwischen 1698 und 1739 ein großes zusammenhängendes Areal gärtnerisch genutzten Landes vor den Toren der Stadt Halle zu erwerben. Sie ließen die Abgrenzungen zwischen den einstigen Privatgärten entfernen, die Wege begradigen und das Gelände nach außen mit einer Mauer abschließen. Anfangs wurden die Gartengrundstücke ähnlich weitergenutzt wie vorher, z. B. die ehemaligen Wein- und Kirschberge für Weinstöcke, Obstbäume und Kräuter, aber zunehmend vereinheitlichte man die Nutzung der Gartenflächen. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts kultivierten die Gärtner im Küchengarten des Waisengartens überwiegend Küchengewächse und im Baumgarten Obstbäume. Der Feldgarten diente ebenso wie die Grasnutzung unter den Obstbäumen vor allem der Gewinnung von Tierfutter.

Im Archiv belegen Rechnungen über die Gärten des Waisenhauses die Lieferung von Gartenerzeugnissen an die Küche bzw. deren Verkauf. Die größten Erlöse erzielte man aus dem Verkauf von Gemüse und Obst, während der Verkauf von Bäumchen aus der eigenen Baumschule und vor allem von Orangerie-Gehölzen nur geringe Gewinne abwarf. Selten sind in diesem Zusammenhang die kultivierten Obst- und Gemüsearten überliefert.

Über die Einnahmen und Ausgaben für die Gärten des Waisenhauses wurde akribisch Buch geführt. Eine so detaillierte Abrechnung wie diese des Waisenhausgärtners George Heinrich Schömberg mit der Auflistung der einzelnen Obst-, Gemüse- und Kräuterarten stellt aber eine Ausnahme dar. Schömberg unterscheidet für jede Sorte Obstbäume, Gemüsepflanzen und Kräuter die Lieferung an die Küche des Waisenhauses und die Einnahmen für den Verkauf der aufgeführten Erntemengen.

Hieronymus Bock (1498–1554) gilt als einer der »Väter der Botanik«. In diesem bedeutenden und weitverbreiteten Werk über die mitteleuropäischen (Heil-)Pflanzen fasste er sein durch eigene Reisen erweitertes Wissen zusammen.

Der hier als Cappes bezeichnete Kohl war auch in den Wirtschaftsgärten des Halleschen Waisenhauses ein wichtiges Gemüse.

Der Apothekergarten und die Maulbeerbaumplantage

Zum Anbau von Heilkräutern für die Apotheke des Waisenhauses schuf man einen eigenen Apothekergarten. Im 18. Jahrhundert an die Apotheke gelieferte Heilpflanzen waren z. B. Thymian, Salbei und Holunderblüten.

Mitte des 18. Jahrhunderts wurde der südliche Teil des Apothekergartens zum Anbau von Heilpflanzen für die Waisenhausapotheke, der nördliche Teil für die Kultivierung von Obstbäumen, v.a. Pflaumenbäumen, genutzt. Ab 1772 verpachtete man den mit Obstbäumen besetzten Teil, der wegen der Häufung von Obstdiebstahl 1784 in einen Acker umgewandelt wurde. Um 1800 genügte der kleine südwestliche Teil für den Heilkräuterbedarf der Waisenhausapotheke.

1744 verfügte der preußische König Friedrich II. (1712–1786), dass am Halleschen Waisenhaus, ebenso wie in sämtlichen Waisenhäusern in seinem Lande, »Maulbeer-Baum Plantages angelegt, auch zu deren Anrichtung und würcklichen Cultivirung die Waysen Kinder gebrauchet und beständig angeführet werden sollen«. Dies führte dazu, dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts tausende Maulbeerbäume das Erscheinungsbild der Gärten, vor allem im Bereich der sogenannten (Maulbeer-)Plantage, prägten. Trotz aller Bemühungen blieb der Seidenbau für die Stiftungen insgesamt aber ein Verlustgeschäft, das endgültig 1805 aufgegeben wurde.

Erholung im Grünen

Obwohl die einstige Lage des Waisenhauses am Rand der Stadt Halle kurze Wege ins Grüne erlaubte, ließ Gotthilf August Francke eigene Spazierwege durch die Gartengrundstücke anlegen, die von den Schülern und Lehrern zur Erholung genutzt wurden.

1744 veranlasste er den Bau eines Gewächshauses in der äußersten südwestlichen Ecke des Geländes, welches für die Anzucht kälteempfindlicher Pflanzen, aber auch für dieÜberwinterung zeittypischer Orangerie-Gehölze gedacht war. Vor dem Gewächshaus befandsich ein als »Lustgärtgen« bezeichneter Blumengarten. In der Nähe sorgten ein Gartenhaus und ein steinerner Tisch für einen erholsamen Aufenthalt im Grünen. Die damals sehr beliebten Zitruspflanzen der Orangerie des Waisenhauses zierten diesen Gartenbereich im Sommer.

 

Die Schüler des Pädagogiums verfügten über eigene Grünflächen, die ab Ende des 18. Jahrhunderts im Stil der englischen Gartenmode mit Pavillons und einem Denkmal für den Stiftungsgründer umgestaltet wurden.

1. Pflanzenliste der Orangerie des Waisenhauses. 1762. In: Vorschriften für die Gärtner und Winzer des Waisenhauses.

Beim Wechsel der Waisenhausgärtner fertigte man Inventare an: So ist von 1762 eine Auflistung aller Orangeriegewächse im Archiv der Franckeschen Stiftungen überliefert. Den Begriff Orangerie, der heute in erster Linie für das Gebäude gebraucht wird, verwendete man im 17. und 18. Jahrhundert als Synonym für die im Gewächshaus überwinternde Sammlung verschiedener fremdländischer Gewächse. Die Pomeranzen-, Zitronen- und Orangen-Bäume finden sich in der Liste entsprechend der damaligen Zitrus-Mode in der absoluten Überzahl, wobei die dem Direktor Gotthilf August Francke »eigenthümlich« gehörenden Pflanzen extra aufgeführt sind.

2. Beschreibung des Hallischen Waisenhauses und der übrigen damit verbundenen Frankischen Stiftungen nebst der Geschichte ihres ersten Jahrhunderts. Zum Besten der Vaterlosen. Hg. v. Johann Ludwig Schulze, Georg Christian Knapp u. August Hermann Niemeyer. Halle: Waisenhaus, 1799.

An der Ostseite des Ballonplatzes oberhalb des Botanischen Gartens des Pädagogiums hatte man 1788 ein Denkmal für den Stiftungsgründer August Hermann Francke in Form einer Gedenkurne errichtet. Um 1800 erblickte man hinter dem Denkmal die oberhalb gelegene kleine englische Gartenanlage des Pädagogiums mit ihrem Pavillon am höchsten Punkt.

Gärten und Erziehung

Köstliche Früchte tragende Bäume dienten im 17. bis 19. Jahrhundert als weit verbreitetes Sinnbild für eine gelungene Erziehung: die Erziehung der Kinder wurde mit der Aufzucht von jungen Obstbäumen in einer Baumschule und damit die Tätigkeit des Lehrers mit der des Baumgärtners verglichen. Auch August Hermann Francke nutzte die zeitgenössische Metapher des Pflanzgartens, aus dem gut erzogene, fromme, Frucht bringende junge Menschen hervorgehen sollten, in einer Schrift zur Projektierung seiner Bildungseinrichtungen.

 

1. Freyer, Hieronymus: Nützliche und nöthige Handleitung Zu Wohlanständigen Sitten […] Zum Gebrauch des Paedagogii Regii zu Glaucha an Halle abgefaßet. Halle: Waysenhaus, 1706.

Der Inspektor des Königlichen Pädagogiums Hieronymus Freyer (1675–1747) verfasste für die Schüler seiner Schule ein Sittenbüchlein, dem im Frontispiz eine symbolträchtige Abbildung fruchttragender Bäume und ein nachfolgendes Sinngedicht vorangestellt sind. Dessen Anfang lautet:

»Der Mensch ist wie ein Baum:

Und wenn sich nun an seinen grünen Zweigen

Die schönen Früchte wahrer Tugend zeigen/

So findet er in allen Gärten Raum.«

2. Niemeyer, August Hermann: Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts für Eltern, Hauslehrer und Schulmänner. 5., verb. Ausg. Theil 3. Halle: Waisenhaus, 1806.

Der Urenkel August Hermann Franckes, August Hermann Niemeyer (1754–1828), leitete nicht nur sehr erfolgreich die Franckeschen Stiftungen und das Königliche Pädagogium, er betätigte sich auch als ein vielgelesener pädagogischer Schriftsteller. Sein Werk »Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts« erschien in drei Teilen und neun Ausgaben zwischen 1796 und 1838. Darin empfiehlt er, entsprechend dem Zeitgeist, die Gartenarbeit für Schüler, die er als wertvoll für die Gesundheit, die Persönlichkeitserziehung und Bildung ansah.

Die bereits Mitte des 17. Jahrhunderts von den Schulreformern Jan Amos Comenius (1592–1670) zur Erholung und Andreas Reyher (1601–1673) zur Veranschaulichung des Unterrichts empfohlene Anlage von Schulgärten setzte August Hermann Francke erstmals in Deutschland in die Praxis um.

Der erste Schulgarten Deutschlands am Königlichen Pädagogium

An August Hermann Franckes Eliteschule, dem Königlichen Pädagogium, fand im Rahmen des damals hochmodernen Realienunterrichts in den Erholungsstunden Botanik-Unterricht statt. Zur Veranschaulichung dieses Unterrichts schuf man 1698 einen Schulgarten nach universitären Vorbildern, der »Hortus Medicus« bzw. »Botanischer Garten« genannte wurde. Dort lernten die Schüler die zeitgenössischen Heilpflanzen kennen und legten Herbarien an.

 

Situationsplan der Gartenflächen des Königlichen Pädagogiums mit dem Botanischen Garten. Um 1750. Die Zeichnung zeigt den tiefliegenden Botanischen Garten mit acht quadratischen Beeten, den über Treppen erreichbaren, höher gelegenen Ballonplatz sowie die oberhalb gelegene Gartenfläche. Auf der dem Pädagogium abgewandten Seite erkennt man eine Baumreihe

Anschlag von dem Gewächs-Hause des Paedagogii. 1765. Diese Planungsakte umfasst Bauskizzen und Kostenvoranschläge für das Gewächshaus im Botanischen Garten des Pädagogiums, welches 1767 errichtet wurde. Die Kosten für den Bau desselben spendete der Engländer John Thornton (gest. 1790), der die Franckeschen Anstalten 1766 besuchte und seinen Sohn von 1767 bis 1770 am Pädagogium unterrichten ließ

Hauptrechnungen des Königlichen Pädagogiums Halle. 1695–1701. Im ersten Rechnungsbuch des Pädagogiums findet sich der älteste Beleg für den Hortus Medicus des Pädagogiums. Am 7. April 1698 ist der Gärtnerlohn für zwei Tage notiert. Die Arbeiten im Garten begannen demnach am 6. April 1698, dem Tag, an dem August Hermann Francke das erste Grundstück für die Franckeschen Stiftungen, den Gasthof »Zum Goldenen Adler« mit dazugehörigem Garten, kaufte.

Blick in den Botanischen Garten des Königlichen Pädagogiums. Aus: Bilderbogen mit Detailansichten der Franckeschen Stiftungen. 1842. Ab 1718 bis zur Auflösung der Schule im Jahr 1870 befand sich der Hortus Medicus bzw. Botanische Garten des Pädagogiums direkt südlich des 1713 errichteten Gebäudes für das Pädagogium.

Das Herbarium des einstigen Botanik-Lehrers am Pädagogium Christoph Friedrich Dam, für das er von 1729 bis 1732 Pflanzen sammelte, ist im Gleimhaus in Halberstadt erhalten geblieben und erlaubt anhand originaler Pflanzen einen Blick in diesen Schulgarten. In der Ausstellung sind nur Herbarblätter von Pflanzen zu sehen, die Johann Christian Senckenberg (1707–1772) bei seinem Besuch im Mai 1730 für den Garten des Pädagogiums notierte. Eine vollständige Artenliste des Gartens, die 1.139 verschiedene Pflanzenarten umfasste, veröffentlichte Christian Friedrich Schrader (1739–1816) im Jahr 1772.

1. Johann Christian Senckenberg: Tagebuchaufzeichnungen zur Botanik vom 31. Mai 1730. Der Medizinstudent Johann Christian Senckenberg (1707–1772) besuchte im Rahmen des Collegium botanicum der hallischen Universität den Botanischen Garten des Pädagogiums und fertigte Notizen zu den hier gezeigten Pflanzenarten an. Diese stellen heute die älteste bekannte Pflanzenartenliste dieses Gartens dar. Sie beginnen unter der unterstrichenen Überschrift »im Garten by d paedagogio regio war«.

2. Herbarblatt Persischer Flieder (Syringa x persica L.). Aus: Dam, Christoph Friedrich: Herbarium Vivum: in tres Tomos divisum, collectum Halæ Saxonum in Pædagogio Regio Glauchensi. Bd. 1. 1729. Christoph Friedrich Dam wirkte von 1728 bis Mai 1732 als Lehrer am Königlichen Pädagogium, wo er u.a. Botanik unterrichtete. Von 1729 bis zum Frühlingsbeginn 1732 fertigte er hier sein dreibändiges Herbarium an, welches sich im Gleimhaus in Halberstadt erhalten hat. Es umfasst insgesamt 1.090 Pflanzen aus verschiedenen Gärten und von unterschiedlichen Exkursionszielen. Im Herbarium finden sich viele zeitgenössisch beliebte Gartenpflanzen, in der Mehrzahl aber einheimische und exotische Pflanzen, denen Heilwirkungen zugeschrieben wurden.

Botanisch gut bestückt – die Lehrerbibliothek des Königlichen Pädagogiums

Die einstige Lehrerbibliothek des Pädagogiums verfügte über wichtige zeitgenössische botanische Bücher, wobei die Werke des Schweden Carl von Linné (1707–1778) besonders zahlreich vertreten waren. Dieser hatte im 18. Jahrhundert die Botanik mit der Einführung der binären Nomenklatur revolutioniert. Außerdem enthielt sie bedeutende illustrierte Werke mit hochwertigen Pflanzenabbildungen wie die »Botanica in originali« von Johann Hieronymus Kniphof (1704–1763) und das »Botanische Bilderbuch für die Jugend und Freunde der Pflanzenkunde« von Friedrich Dreves (1772–1816) und Friedrich Gottlob Hayne (1763–1832).

Mehrere Lehrer des Königlichen Pädagogiums verfassten selbst Lehrbücher, die in der Regel im Halleschen Waisenhaus gedruckt wurden, wie zum Beispiel Johann Julius Hecker (1707–1768) über die Botanik und die Anatomie und Physiologie des menschlichen Körpers. Das erfolgreiche Naturkunde-Lehrbuch des ehemaligen Lehrers am Pädagogium Johann Christian Wilhelm Nicolai (1757–1828) erschien mehr als ein halbes Jahrhundert lang in zahlreichen Auflagen.

1. Kleiner Odermennig (Agrimonia eupatoria L.) In: Kniphof, Johann Hieronymus: Botanica in originali seu herbarium vivum […]. [2. Aufl.]. Centur. 1-12. Halle: Trampe, 1757-1764. Dieses wertvolle handkolorierte botanische Werk aus der Lehrerbibliothek des Königlichen Pädagogiums mit insgesamt 1.200 Pflanzenabbildungen wurde im Naturselbstdruck- verfahren hergestellt. Da die zarten Pflanzen nur wenige Druckvorgänge erlaubten, war die Auflage sehr niedrig und es gab erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Exemplaren der »Botanica in originali«. Angeregt hatte diese Ausgabe der Erfurter Professor Johann Hieronymus Kniphof (1704–1763); bereits ab der zweiten Centurie fungierte Friedrich Wilhelm von Leysser (1731–1815) als wissenschaftlicher Herausgeber.

2. Hecker, Johann Julius: Einleitung in die Botanic […].Halle: Waisenhaus, 1734. Der für die Ausstrahlung des Schulgartens am Pädagogium bedeutendste Lehrer war Johann Julius Hecker (1707–1768), der hier von 1729 bis 1735 lehrte und u. a. »einige Nebenstunden auf die Botanic« verwendete. Er verfasste dieses Lehrbuch für den Botanik-Unterricht am Pädagogium; später richtete er den ersten Schulgarten in Berlin für die von ihm nach Franckes Vorbild gegründete Ökonomisch-mathematische Realschule ein. Das botanische Lehrbuch informiert hauptsächlich über die Heilwirkungen der Kräuter und deren Verwendung in der Medizin. Damit spiegelt es die damaligen Lehrinhalte des Botanik-Unterrichts am Pädagogium wieder.

Saat-Lein, Flachs (Linum usitatissimum L.) In: Botanisches Bilderbuch für die Jugend und Freunde der Pflanzenkunde. Hg. v. Friedrich Dreves u. Friedrich Gottlob Hayne. Bd. 3. Getreue Abbildungen und Zergliederungen Deutscher Gewächse. Leipzig: Voss und Compagnie, 1798. Die Botaniker Friedrich Dreves (1772–1816) und Friedrich Gottlob Hayne (1763–1832) schufen dieses botanische Bilderbuch nach dem Vorbild von Friedrich Justin Bertuchs (1747–1822) »Bilderbuch für Kinder«. Hochwertige naturgetreue Pflanzenabbildungen sollten die Lust zur Beschäftigung mit der Botanik wecken. Die knapp gehaltenen deutschen Texte mit den nötigsten und nützlichen Informationen über die einzelnen Pflanzenarten finden sich in Kurzform zusätzlich in englischer und französischer Sprache.