Bewegte Zeiten

Zur Geschichte und Zukunft des Reisens

Grafik des Themenjahres »Bewegte Zeiten. Zur Geschichte und Zukunft des Reisens«

Die Welt scheint sich immer schneller zu drehen. Das Gefühl grenzenloser Mobilität gehört heute zu den bestimmenden Merkmalen unserer Lebensweise und wird bisweilen als Grundvoraussetzung für eine persönliche Freiheit definiert. Im Internet surfen wir innerhalb von Sekunden um die ganze Welt und in ihre entferntesten Ecken. Aber auch physisch können wir heute innerhalb weniger Stunden von einem Ende der Welt zum anderen gelangen. Und vor der Haustür steht ein Automobil, mit dem wir im Handumdrehen am Nordkap oder an der Südspitze Italiens sind. Das alles ist für uns selbstverständlich. Und wir sind verärgert, wenn unser Mobilitätsanspruch behindert wird, wenn der ICE Verspätung hat, wenn wir im Stau stehen müssen oder das Internet gedrosselt wird. Wir haben unser Leben ganz selbstverständlich um diesen Anspruch auf grenzenlose Mobilität herum aufgebaut und wohnen deswegen nicht selten hunderte Kilometer von unserem Arbeitsplatz entfernt, legen tausende von Kilometern zurück, um Urlaub zu machen oder fliegen um die halbe Welt, um drei Tage lang an einem Kongress teilzunehmen. Und ein Ende dieser Entwicklung ist längst noch nicht abzusehen. Mit Hochdruck werden neue Antriebsarten erdacht und innovative Treibstoffe ausprobiert, um diese Entwicklung in Gang zu halten und ein Abbremsen der Mobilitätsbeschleunigung um jeden Preis zu verhindern. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass wir das Gefühl haben, bewegte Zeiten mitzuerleben. Das Jahresprogramm der Franckeschen Stiftungen 2018 nahm dies zum Motto und widmete sich einer besonderen Form der organisierten Mobilität: dem Reisen.

Anlass war die berühmte Reise August Hermann Franckes ins Reich, die er vor 300 Jahren unternahm. Sie war 2018 der Ausgangspunkt für die Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen, stand aber nicht im Zentrum, sondern wurde neben anderen Reisen und Expeditionen, die für die Geschichte der Franckeschen Stiftungen und des Pietismus prägend waren, unter dem Titel »Durch die Welt im Auftrag des Herrn. Reisen von Pietisten im 18. Jahrhundert« thematisiert. Das weltweite Echo der Reformbestrebungen, die August Hermann Francke  von Halle aus verfolgte, war ohne ein strukturiertes Netzwerk nicht möglich. Dessen Knotenpunkte bildeten Filialen nach dem Vorbild Halles und pietistische Gefolgsleute Franckes, die über das ganze protestantische Europa und darüber hinaus verteilt waren und sowohl mit Halle als auch untereinander mittels brieflichem Kontakt, Warenaustausch und durch Reisetätigkeiten verbunden waren. Da es als konstitutives Element der pietistischen Weltreformpläne unverzichtbar war, versuchte man das Reisen in vieler Hinsicht zu systematisieren, etwa durch einen organisierten Erfahrungsaustausch und die Sammlung von Informationen über besonders wichtige Routen, Verkehrsmittel und Reisetechniken. Das reichte bis hin zu Empfehlungen bestimmter Kleidungstücke, besonderer Gepäckbeschaffenheit und geeigneter Nahrungsmittel bei Überseereisen. Diese Informationen wurden über Generationen zusammengetragen und weitergegeben, was nicht nur das Reisen immer mehr erleichterte, sondern bisweilen durchaus lebensrettend sein konnte.

Darüber hinaus schlug das Jahresprogramm auch 2018 wieder den thematischen Bogen in die Gegenwart und sogar in die Zukunft. Zahlreiche hochinteressante und renommierte Gäste waren dafür zu Gast. Gleich zur Eröffnung des Jahresprogramms zur Francke-Feier begeisterte der Reiseschriftsteller und Bestsellerautor Ilija Trojanow mit seinem Festvortrag »Über das Reisen«. Ebenso humorvoll wie klug stellte er Tourismus und Reisen gegenüber und brach eine Lanze dafür, bei aller Reise- und Tourismuskritik, auch weiterhin neugierig auf die Welt zu bleiben: »Im Gegensatz zu manch einem Zyniker glaube ich weiterhin an die möglichen Segnungen des Reisens. (...) Ich bin überzeugt, dass wir noch reisen können, auch wenn die Welt geschrumpft ist und alle weißen Flecken ausschraffiert sind. Nur müssen wir uns darum bemühen.« Im Laufe des Reise-Jahres begegneten wir in zahlreichen Veranstaltungen dem Fremden, der Zukunft, den Herausforderungen unserer Zeit und vor allem uns selbst. So griffen die Themenabende begleitend zur Jahresausstellung aktuelle Debatten auf: Der Migrationsexperten Prof. Dr. Jochen Oltmer sprach über historische und aktuelle Migrationsbewegungen, während der syrische YouTuber Firas Alshater über das Ankommen in Deutschland berichtete. Prof. Dr. Alfred Schäfer, Professorfür Systematische Erziehungswissenschaft, analysierte die touristischen Sehnsucht nach authentischen Erfahrungen. Und auch der Publizist Alfred Grosser war zu Gast und diskutiert mit dem Publikum übder die Identitäten des Menschen. Zur Museumsnacht wagten wir eine Reise in die Fremde. Im Freylinghausen-Saal zeigte ein aufwendiges Videomapping von Hofilluminator Bernd E. Gengelbach mit Bildern des weitgereisten Fotografen Thomas Meinicke die Momenthaftigkeit und den Alltag in anderen Kulturen. Begleitet wurde die Installation durch Livemusik der Dresdner Band Marmitako. Parallel lud die beliebte Kultsendung »Alltag anders« von Deutschlandfunk Kultur die Besucher zum Eintauchen in die Alltagsgewohnheiten rund um den Globus ein. In Beiträgen über das Blaumachen, das öffentliche Windeln oder den Umgang mit Volksliedern wurde klar, dass Globalisierung vor den alltäglichen Dingen halt macht. In der Reihe »Persönlichkeiten« konnte das Publikum die abenteuerliche Seite des Reisens kennen lernen. Die »Marsreisende« Christiane Heinicke berichtete über ihr Leben »auf dem Mars«, das sie ein Jahr lang während eines NASA-Experiments auf einem aktiven Vulkan simulierte. Der Polarforscher Arved Fuchs sprach über seine Expeditionen ins ewige Eis und was sie ihm über den Zustand des Klimas verrieten.