Internationale Beziehungen

Die Franckeschen Stiftungen weltweit

Die Reformimpulse August Hermann Franckes wurden in den europäischen Machtzentren mit aufmerksamem Interesse verfolgt. Zum Hof Peters des Großen (1672–1725) in Moskau und später St. Petersburg knüpften wichtige Mittelsmänner wie der Diplomat am englischen Hof und Autor der ersten russischen Grammatik, Heinrich Wilhelm Ludolf (1655–1712), Kontakte. Bereits 1698 suchten die Berater des Zaren in Bildungsfragen das Gespräch mit Francke in Halle. Die britische Königin Anne (1665–1714) unterstützte englische Zöglinge am Halleschen Waisenhaus. Die von Francke geprägten Hofprediger am Londoner Hof, Anton Wilhelm Böhme (1663–1722) und Friedrich Michael Ziegenhagen (1694–1776) wirkten als Vermittler des Halleschen Pietismus nach Südindien und Nordamerika. Auch zum dänischen König Friedrich IV. (1671-1730) hatte Francke engen Kontakt und der Pietismus beeinflusste in der Folge das dänische Kirchenwesen grundlegend. Auf Anregung und mit der Finanzierung des dänischen Königs errichteten Theologen aus Halle eine Mission in der dänischen Handelsniederlassung Tranquebar (Tharangambadi) in Südindien an der Coromandel-Küste. Das war die erste dauerhafte protestantische Mission in der Geschichte.

Mit Johann Anastasius Freylinghausen (1670–1739) und besonders Gotthilf August Francke (1698–1769) führten in der Nachfolge Schwiegersohn und Sohn Franckes im Amt des Direktors den Aufbau des weltweiten Kommunikationsnetzwerkes fort und sie banden vor allem Nordamerika ein. Dieses Netzwerk verknüpfte über Landesgrenzen und Kontinente hinweg einen großen, pietistischen Reformideen aufgeschlossenen Personenkreis mit dem Halleschen Waisenhaus. Auf dieser Grundlage florierten intensive wechselseitige interkulturelle, personelle und materielle Austauschprozesse. So fand beispielsweise das Modell des Halleschen Waisenhauses zahlreiche Nachahmer auf dem Gebiet des heutigen südlichen Polens, während umgekehrt etliche Schüler und Studenten aus Schlesien an die Schulen der Franckeschen Stiftungen zogen. In Halle ausgebildete Theologen und Lehrer wurden in großer Zahl in die Lande des dänischen Königs vermittelt, im Gegenzug fanden zahlreiche Naturalia aus den dänischen Kolonien den Weg in die Kunst- und Naturalienkammer der Stiftungen.

Wesentlich für die Institutionalisierung und die Konsolidierung dieses Netzwerkes war nach Franckes Tod 1727 sein Sohn Gotthilf August Francke. Der dritte Direktor war jedoch nicht nur ein ausgeprägter Netzwerker, sondern auch maßgebend für den weiteren Auf- und Ausbau der Franckeschen Stiftungen verantwortlich, die ihr heutiges Bild zu einem nicht geringen Grad ihm verdanken. 

Literatur

Das Hallesche Waisenhaus. Die Franckeschen Stiftungen mit ihren Sehenswürdigkeiten. Hg. v. Thomas Müller-Bahlke. 3. erw. u. akt. Ausgabe. Wiesbaden 2015 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 1). 

Die Welt verändern. August Hermann Francke – ein Lebenswerk um 1700. Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen zum Jubiläum des 350. Geburtstags August Hermann Franckes vom 24. März bis 21. Juli 2013. Hg. v. Holger Zaunstöck, Thomas Müller-Bahlke u. Claus Veltmann. Halle 2013 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 29).

Halle und Osteuropa. Zur europäischen Ausstrahlung des hallischen Pietismus. Hg. v. Johannes Wallmann und Udo Sträter. Tübingen 1998 (Hallesche Forschungen, 1).


 

Baltikum

Im Baltikum des 18. Jahrhunderts gab es eine einflussreiche deutsche Minderheit, die meist lutherischen Glaubens war. Pietistische Frömmigkeit hielt früh Einzug und viele deutsche Balten bemühten sich, unter Letten, Esten und Litauern den Pietismus zu verbreiten und zu diesem Zweck die Nationalsprachen zu fördern. Seit seinen Studientagen in Halle ein glühender Anhänger Franckes, gab beispielsweise Eberhard Gutsleff (ca. 1691–1749) ein estnisches Haus- und Kirchengesangbuch heraus, das in Halle gedruckt wurde. In Alp (Albu) bei Reval (Tallinn) wurde 1717 ein Waisenhaus halleschen Zuschnitts gegründet. Nur von kurzer Dauer war das Litauische Seminar in den Franckeschen Stiftungen, das Gotthilf August Francke im Sommer 1727 gründete. Johann Richter (Lebensdaten unbekannt) und Friedrich Wilhelm Haack (1706–1754) unterrichteten eine Anzahl von Studenten und 1730 erschien ein litauisch-deutsches Wörterbuch.

Literatur

Michael Rocher: Pietislk koolikorraldus Baltikums? Uurimus Francke pedagoogiumi kollokorralduse »ekspordist« Tallinna ja Riia kórgematesse koolidesse aastail 1720-1770, übers. von Kairit Kaur, in: Tallinn Linnaarhiiv (Hrsg.), Vana Tallinn, 27 (31), 2016,  104–132.

 »Mach dich auf und werde licht _Celies nu, topi gaišs« Zu Leben und Werk Ernst Glücks (1654-1705). Akten der Tagung anlässlich seines 300. Todestages vom 10. Bis 13. Mai 2005 in Halle (Saale). Hg. v. Christiane Schiller u. Māra Grudule. Wiesbaden 2010.

Christiane Schiller: Das Litauische Seminar in Halle (1727-1740) und seine Mitglieder. Auf Spurensuche. In: Acta Baltica 32, 1994, 195–223.


 

Böhmen und Mähren

Die universalistischen und pädagogischen Ideen des Böhmen Johann Amos Comenius (1592–1670) waren Vorbild für August Hermann Francke. Über die Niederlande war er in den Besitz eines Teilnachlasses von Comenius gekommen und veröffentlichte posthum eines seiner Werke. Als Teile der protestantischen Bevölkerung um 1700 aus Böhmen vertrieben wurden, fanden sie Aufnahme in Brandenburg-Preußen. Francke nahm sich ihres Schicksals an. In Halle wurden nun religiöse Bücher in tschechischer Sprache gedruckt, darunter auch Übersetzungen der Bücher A.H. Franckes und Freylinghausens. Die Herausgabe einer tschechischen Bibel 1722 war der Höhepunkt dieser Entwicklung. Heinrich Milde (1676–1739), ein Mitarbeiter A.H. Franckes, war für die Kontakte des Halleschen Waisenhauses nach Osteuropa zuständig und betreute böhmische Exilgemeinden in Barby an der Elbe und in der Lausitz. Er vermachte seine private Büchersammlung mit zahlreichen tschechischen Drucken der  Bibliothek des Waisenhauses.

Die Comenius-Handschriften, die Francke erhalten hatte, wurden erst 1935 von Dmitrij I. Tschižewskij (1894–1977) in der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen wiederentdeckt. Sie werden heute in der Nationalbibliothek Prag aufbewahrt, nachdem die DDR sie der damaligen CSSR als offizielles Gastgeschenk im Rahmen eines Staatsbesuches 1957 übergeben hatte. Eine Kopie der Handschriften vermachte Werner Koorthase (1937–2008) kurz vor seinem Tod den Franckeschen Stiftungen.

Literatur

Brigitte Klosterberg: »Der Segen dieser seiner Reisen wird noch in der Ewigkeit offenbar werden.« Heinrich Mildes Reisen zur Unterstützung böhmischer Protestanten. In: Durch die Welt im Auftrag des Herrn. Reisen von Pietisten im 18. Jahrhundert. Hg. v. Anne Schröder-Kahnt u. Claus Veltmann. Halle 2018. (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 35), 139–149.

Brigitte Klosterberg/Mechthild Hofmann: »das eintzige zeitliche Vermögen«. Bücher als Speicher der Erinnerung in Flucht und Exil. In: Wissensspeicher der Reformation. Die Marienbibliothek und die Bibliothek des Waisenhauses in Halle. Ausstellung zum Auftakt des Reformationsjubiläums im Historischen Waisenhaus vom 30. Oktober 2016 bis zum 26. März 2017. Hg. von Doreen Zerbe. Halle 2016 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 34), 172–181.

  • weiterhin erschienen:

Franz Hofmann: Die »Halleschen Funde« - Schicksal einer Handschrift. In: Comenius-Jahrbuch 5, 1997,  69– 86.

Werner Korthaase: Was mit der »Consultatio catholica«, dem Hauptwerk des Comenius, von 1934 bis 1945 geschah. In: Comenius-Jahrbuch.  3, 1995,  72–90.


 

Griechenland

Ein erstaunlicher, wenn auch erfolgloser Plan bestimmte die Kontakte der Franckeschen Stiftungen nach Griechenland. Erdacht von dem Diplomaten und Sprachwissenschaftler Heinrich Wilhelm Ludolf (1655–1712), sollte in Halle ein Collegium Graecum für junge Griechen entstehen. Hier ausgebildet sollten sie die griechisch-orthodoxe Kirche im Sinne  des Protestantismus beeinflussen. Zur Umsetzung des Plans wurden 1700 zwei junge Theologen nach Konstantinopel (Istanbul) und Adrianopel (Edirne) entsandt. Sie sollten Griechen für das Studium in Halle gewinnen, was 1702 nach Gründung des Collegium orientale theologicum auch geschah. Die Enge der pietistischen Zirkel und das ausbleibende Stipendium ließ sie jedoch bald zurückkehren. Einziger bleibender Erfolg der Unternehmung war die altgriechisch-neugriechische Parallelausgabe des Neuen Testaments. Sie gilt heute als Meilenstein auf dem Weg der Griechen zur späteren nationalen Selbstständigkeit im 19. Jahrhundert.

Literatur

Ulrich Moenning: Die griechischen Studenten am Hallenser Collegium orientale theologicum. In: Halle und Osteuropa. Zur europäischen Ausstrahlung des hallischen Pietismus. Hg. v. Johannes Wallmann und Udo Sträter. Tübingen 1998 (Hallesche Forschungen 1), 299–329.


 

Königreich Dänemark

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts gab der dänische König Friedrich IV. (1671–1730) den Anstoß für die erste nachhaltige lutherische Mission in Südostindien. Von Beginn an wirkten Hallesche Pietisten als Missionare in der dortigen dänischen Handelsniederlassung Tranquebar. Damit festigte die Dänisch-Hallesche-Mission genannte Unternehmung seit 1706 den Kontakt der Franckeschen Stiftungen zum dänischen Königshaus. Sichtbarer Ausdruck dafür war das 1727 nach Halleschem Vorbild errichtete Waisenhaus in Kopenhagen. Christian VI. (1699–1746), ab 1730 Friedrichs Nachfolger auf dem dänischen Königsthron, förderte die pietistischen Reformen des Kirchen- und Schulwesens in seinen Landen massiv. Er stand in engem Kontakt mit seinem Cousin Graf Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode (1691–1771), dem wahrscheinlich wichtigsten adligen Verbündeten des Halleschen Waisenhauses im 18. Jahrhundert. Zahlreiche Pietisten gelangten über die Achse Halle – Wernigerode nach Dänemark und beeinflussten dort nachhaltig das geistige und kulturelle Leben. Dies gilt bspw. für den Theologen Adam Struensee (1708–1791), dessen Sohn Johann Friedrich Struensee (1737–1772), zu den berühmtesten Schülern der Lateinischen Schule der Franckeschen Stiftungen zählt. Johann Friedrich wurde nicht nur durch seine medizinischen Forschungen berühmt, sondern brachte als leitender Minister auch bedeutende Gesellschaftsreformen in Dänemark auf den Weg.  

Literatur

Juliane Engelhardt: Pietismus und Krise. Der hallesche und der radikale Pietismus im dänischen Gesamtstaat, in: Historische Zeitschrift 307, 2018, H. 2, 341–369.

Mit Göttlicher Güte geadelt. Adel und Hallescher Pietismus im Spiegel der Fürstlichen Sammlungen Stolberg-Wernigerode. Hg. v. Claus Veltmann, Thomas Ruhland u. Thomas Müller-Bahlke. Halle 2015 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 31).

 


 

Königreich Großbritannien

Heinrich Wilhelm Ludolf steht am Anfang der Verbindungen zwischen den Franckeschen Stiftungen und Großbritannien. Als Sekretär des Prinzen Georg von Dänemark (1653–1708), des  späteren Gemahls von Königin Anne (1665–1714), wirkte er seit 1686 bis zu seinem Tod in London. Er vermittelte den Halleschen Pietisten Anton Wilhelm Böhme (1673–1722) als Hofprediger und Pfarrer an die deutsche Hofkapelle in St. James (1705) und legte damit den Grundstein für eine nachhaltige Netzwerkarbeit der Hallenser. Francke selbst wurde bereits im Juni 1700 korrespondierendes Mitglied der Society for Promoting Christian Knowledge (SPCK). London etablierte sich zum wichtigsten Knotenpunkt im internationalen Netzwerk des Halleschen Pietismus während des 18. Jahrhunderts. Hier liefen die Verbindungen von und nach Nordamerika und Indien zusammen. Böhme ebnete Franckes Ideen den Weg in den englischsprachigen Raum durch die Übersetzung wichtiger Schriften wie der „Segensvollen Fußstapfen“. Er vermittelte zudem englische Schüler nach Halle, für die eigens mit Mitteln englischer Spender ein "Englisches Haus" (heute Haus 26) errichtet wurde. Böhmes Amtsnachfolger Friedrich Michael Ziegenhagen (1694–1776) wurde später zum unersetzlichen Bindeglied zwischen Gotthilf August Francke und den nordamerikanischen lutherischen Gemeinden in Pennsylvania und Georgia. Weithin unbekannt ist zudem, dass der hallesche Student Georg Müller (1805–1898) 1836 in Ashley Down, Bristol, fünf Waisenhäuser nach dem Vorbild Halles gründete. Die heutige George Müller Foundation setzt diese karitative Arbeit in England nach modernen Gesichtspunkten fort.

Literatur

London und das Hallesche Waisenhaus. Eine Kommunikationsgeschichte im 18. Jahrhundert. Hg. v. Holger Zaunstöck, Andreas Gestrich u. Thomas Müller-Bahlke. Halle 2014 (Hallesche Forschungen, 39).

Christina Jetter-Staib: Halle, England und das Reich Gottes weltweit – Friedrich Michael Ziegenhagen (1694-1776). Halle 2013 (Hallesche Forschungen, 34).

  • außerdem erschienen:

Alexander Schunka: Zwischen Kontingenz und Providenz. Frühe Englandkontakte der Halleschen Pietisten und protestantische Irenik. In: Pietismus und Neuzeit 34, 2008, 82–114.


 

Niederlande

August Hermann Francke waren die religiösen und sozialen Verhältnisse im ausgehenden 17. Jahrhundert in den Niederlanden durch seine Korrespondenz unter anderem mit dem dorthin geflohenen Theologen Friedrich Breckling (1629–1711) bestens bekannt. Auf diesem Weg war er auch über die generelle Offenheit der Niederländer für puritanische Geistesströmungen und den reformtheologischen Sonderweg der »Nadere Reformatie« informiert. 1705 unternahm A.H. Francke zudem seine einzige Auslandsreise in die Niederlande. Die pietistische Lebensform fand dort aber wenige wirkliche Anhänger. Trotzdem war das Land in seiner Symbiose des geistlichen Lebens, wirtschaftlichen Handelns und sozialen Engagements ein wichtiges Vorbild für die hallesche Schulstadt August Hermann Franckes.

Die Niederlande galten aufgrund des Reichtums ihrer Städte im ausgehenden 17. Jahrhundert als wegweisend, vor allem auch in der Waisenfürsorge. Das war auch in Halle bekannt. Bereits 1697 war der engste Mitarbeiter Franckes, Georg Heinrich Neubauer (1666–1726), über Hannover in die Niederlande gereist. Sein Auftrag lautete, bereits existierende Waisenhäuser in Amsterdam, wie beispielsweise das Burgerweeshuis, zu begutachten. Die Waisen- und Armenfürsorge in den Niederlanden, einem der fortschrittlichsten Staaten der Zeit, sollte als Vorbild für das geplante Hallesche Waisenhaus dienen. Mit einem Katalog von ca. 200 Einzelfragen (!) wurden alle wichtigen Informationen erfasst. Auf der Basis der Erkenntnisse Neubauers legte Francke 1698 den organisatorischen und baulichen Grundstein für sein Waisenhaus.

Doch nicht nur für den halleschen Waisenhausbau war Neubauers Reise vorbildhaft. Neubauer selbst verfasste akribische Notizen, die nachfolgenden Reisenden des pietistischen Netzwerkes bei der Reisevorbereitung helfen sollten. Wie heutige Reiseführer oder Reiseblogs enthalten die Aufzeichnungen wertvolle Hinweise zur Reise in der Fremde, unter anderem eine erhellende Erklärung, was ein Reisender im 18. Jahrhundert bei der Fahrt in einer Schuyte (einem flachen Boot, dass durch die Kanäle gezogen wurde) beachten musste.

Literatur

Holger Zaunstöck: Auf der Suche nach einem »Modell«. Georg Heinrich Neubauers Reise in die Niederlande (1697/98), in: Durch die Welt im Auftrag des Herrn. Reisen von Pietisten im 18. Jahrhundert. Hg. v. Anne Schröder-Kahnt u. Claus Veltmann, Halle 2018 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 35), 89–105.

Friedrich Breckling (1629–1711). Prediger, »Wahrheitszeuge« und Vermittler des Pietismus im niederländischen Exil. Hg. v. Brigitte Klosterberg u. Guido Naschert. Halle 2011 (Kleine Schriftenreihe der Franckeschen Stiftungen, 11).

  • weiterhin erschienen:

Udo Sträter: Interessierter Beobachter oder Agent in eigener Sache? August Hermann Franckes Hollandreise 1705. In: Goldenes Zeitalter und Jahrhundert der Aufklärung. Kulturtransfer zwischen den Niederlanden und dem mitteldeutschen Raum im 17. und 18. Jahrhundert. Hg. v. Erdmut Jost u. Holger Zaunstöck in Zusammenarbeit mit Wolfgang Savelsberg. Halle 2012, 62–77.

 


 

Nordamerika

Bereits August Hermann Francke hegte ein Interesse an der Neuen Welt und stand in einer wissenschaftlich-theologischen Korrespondenz mit dem puritanischen Geistlichen und Gelehrten Cotton Mather (1663–1728) in Boston. Während der Amtszeit des dritten Direktors der Franckeschen Stiftungen, Gotthilf August Francke, vertieften sich die Kontakte der Halleschen Pietisten zu Nordamerika. Als ab 1731 etwa 20.000 Protestanten aus dem Erzstift Salzburg ihres Glaubens wegen ausgewiesen wurden und eine neue Heimat suchten (die sogenannten Salzburger Emigranten) beteiligte sich das Waisenhaus aktiv an der Versorgung dieser Glaubensflüchtlinge. Ein nicht unwesentlicher Teil der Salzburger übersiedelte in der Folge in die neugegründete Kolonie Georgia im damaligen britischen Nord-Amerika. Unterstützung von hallescher Seite erfuhren sie dabei nicht nur in Form von Spendengeldern und Druckwerken, sondern auch durch Hallesche Pastoren, die sie in ihre neue Heimat begleiteten und sich dort mit ihnen niederließen. Kurze Zeit später baten dann die deutschen Lutheraner in Pennsylvania ihren Kontaktmann Friedrich Michael Ziegenhagen in London um die Vermittlung ausgebildeter Pastoren. Ziegenhagen wandte sich an Gotthilf August  Francke, der 1741 Heinrich Melchior Mühlenberg (1711–1787) entsandte. Mühlenberg gilt heute als „Patriarch der lutherischen Kirche Nordamerikas“. Seine Söhne, ausgebildet in Halle, sollten zu prägenden Persönlichkeiten der frühen US-amerikanischen Geschichte werden. Friedrich (Frederick) August (1750–1801) ist als erster Sprecher des Repräsentantenhauses und Erstunterzeichner der Bill of Rights bekannt, Johann (John) Peter Gabriel (1746–1807) kämpfte als Brigadegeneral unter George Washington (1731–1799) und wird mit einem Denkmal auf dem Capitol Hill geehrt.

Literatur

Hallesche Pastoren in Pennsylvania, 1743–1825. Eine kritische Quellenedition zu ihrer Amtstätigkeit in Nordamerika. Herausgegeben von Mark Häberlein, Thomas Müller-Bahlke und Hermann Wellenreuther. Halle 2019ff.  (Hallesche Quellenpublikationen und Repertorien, 15).

The Transatlantic World of Heinrich Melchior Mühlenberg in the Eighteenth Century. Edited by Hermann Wellenreuther, Thomas Müller-Bahlke, A. Gregg Roeber. Halle 2013 (Hallesche Forschungen, 35).

Freiheit Fortschritt und Verheißung. Blickwechsel zwischen Europa und Nordamerika seit der frühen Neuzeit. Hg. v. Claus Veltmann, Jürgen Gröschl u. Thomas Müller-Bahlke. Halle 2011 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 27).

Salzburg – Halle – Nordamerika. Ein zweisprachiges Find- und Lesebuch zum Georgia-Archiv der Franckeschen Stiftungen. Hg. v. Thomas Müller-Bahlke u. Jürgen Gröschl. Tübingen 1999 (Hallesche Quellenpublikationen und Repertorien, 4).

  • weiterhin erschienen:

Wolfgang Flügel: Hallesche Pastoren und ihre Gemeinden in Pennsylvania 1742–1820. Deutsche Lutheraner zwischen Persistenz und Assimilation. Berlin, Boston 2019 (Hallische Beiträge zur Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, 14).

Alexander Pyrges: Das Kolonialprojekt EbenEzer. Formen und Mechanismen protestantischer Expansion in der atlantischen Welt des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 2015 (Transatlantische historische Studien, 53).

Thomas J. Müller: Kirche zwischen zwei Welten. Die Obrigkeitsproblematik bei Heinrich Melchior Mühlenberg und die Kirchengründung der deutschen Lutheraner in Pennsylvania. Stuttgart 1994 (Transatlantische historische Studien, 2).

 


 

Polen und Schlesien

Zu den Protestanten im rekatholisierten, habsburgischen Schlesien bestand von Anfang an eine enge Verbindung. So wurde das Pädagogium Regium, die für den Adel und das Bürgertum eingerichtete Schule auf dem Gelände der Franckeschen Stiftungen, seit seiner Etablierung 1695 von besonders vielen Kindern aus Schlesien frequentiert. Der Polnischunterricht ab 1702 am Collegium Orientale Theologicum und der Druck der Bibel in polnischer Sprache im Jahr 1726 markieren weitere Jahre intensiver Bemühungen der Halleschen Pietisten, um die konfessionell bedrängten Lutheraner in Polen und Schlesien zu unterstützen. Lutherische Landeskinder wurden in Franckes Schulen ausgebildet und 1709 der Versuch unternommen, zwei der engsten Mitarbeiter Franckes als Lehrer und Pastoren an der Gnadenkirche und Schule in Teschen (Cieszyn) anzustellen. Unterstützt wurde Francke dabei von einer Gruppe pietistisch gesinnter Adliger, die über familiäre Verbindungen nach Schlesien verfügten. In Breslau (Wrocław) wirkte von 1712–1745 beispielsweise der hallesche Emissär Anhard Adelung (gest. 1745). Waisenhäuser nach Halleschem Vorbild entstanden 1718 in Sorau (Żary), 1719 in Züllichau (Sulechów) und Ober-Glauche (Głuchów Górny) und 1754 auch in Bunzlau (Bolesławiec). Insbesondere das vom Nadler Sigismund Steinbart (1677-1739) in Züllichau errichtete Waisenhaus entwickelte sich durch den Aufbau von Wirtschaftsbetrieben, der Frommannschen Buchhandlung und eines eigenen Pädagogiums zu einem nachhaltig erfolgreichen Ableger des Halleschen Vorbildes. Im missionarischen Fokus des 1728 vom Francke-Schüler Johann Heinrich Callenberg (1694-1760) gegründeten Institutum Judaicum et Muhammedicum stand zudem das polnische Judentum. Die jüdischen Gemeinden wurden von den reisenden Mitarbeitern des Institutums besucht, deren Tagebücher aus den Jahren 1730/31 eine ausgeprägte interreligiöse Streitkultur belegen.

Literatur

Halle i Sulechów – ośrodki pietyzmu i edukacji, tło religijno-historyczne, powiązania europejskie. Hg. v. Bogumiła Burda u. Anna Chodorowska. Zielona Góra 2019.

Uczniowie i nauczyciele szkół sulechowskich i ich powiązania europejskie. 300 lat Fundacji Steinbarta. Praca zbiorowa,  pod redakcją  naukową Bogumiły Burdy, Zielona Góra (im Druck).

Bibliographischer Nachweis der Drucke des Waisenhausverlags zu Halle (1698–1806) in Sulechów (Züllichau) und Cieszyn (Teschen). Hg. v. Brigitte Klosterberg. Halle 2019 (Hallesche Quellenpublikationen und Repertorien; 17).

Thomas Müller-Bahlke: »Weil Halle auch in dieser Gegend einigen gefährlich und verdächtig vorkommt«. Das Zusammenwirken von Adel und Pietismus bei der Gründung der Gnadenkirche in Teschen. In: Mit Göttlicher Güte geadelt. Adel und Hallescher Pietismus im Spiegel der fürstlichen Sammlungen Stolberg-Wernigerode. Katalog zur Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen vom 19. Oktober 2014 bis 22. März 2015. Hg. von Claus Veltmann, Thomas Ruhland u. Thomas Müller-Bahlke. Halle 2014 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 31), 70–87.


 

Russland

Die Verbindungen des halleschen Waisenhauses nach Russland wurden durch die Reformpolitik Zar Peters des Großen (1672–1725) begünstigt. Francke korrespondierte über Russland mit dem Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz (1677–1752) und knüpfte zudem vielfältigen Beziehungen über den Orientalisten Heinrich Wilhelm Ludolf. Letzterer war der Verfasser der frühesten Grammatik der russischen Sprache und gab 1698 den ersten akademischen Russischunterricht in Halle. Mitarbeiter und Schüler A. H. Franckes profitierten von diesen Kontakten und Sprachkenntnissen und fanden als Hauslehrer, Pastoren, Beamte und Mediziner Anstellungen in St. Petersburg, Moskau und Sibirien. In Narva, Astrachan sowie Tobolsk entstanden außerdem Waisenhäuser nach halleschem Vorbild. Bis in diese abgelegenen Gebiete reichte zudem der rege Medikamenten- und Buchhandel des Halleschen Waisenhauses. Wissenschaftler, wie der Sibirienforscher Georg Wilhelm Steller (1709–1746), nutzten die guten Verbindungen zu Laurentius Blumentrost d.J. (1692–1755), der in Halle studiert hatte und später als Leibarzt des Zaren und Gründungspräsident der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg wirkte. Ein wichtiger Kontakt bestand zudem zu Feofan Prokopovitsch (1681–1736), Erzbischof von Nowgorod und Berater Peters des Großen.

Literatur

Holger Zaunstöck: Halle, London, St. Petersburg: Emerging outlines of an early 18th century story of communication. In: Россия и западноевропейское Просвещение. Cб. науч. тр., сост.: Н.П. Копанева, отв. ред.: В.Р. Фирсов, ред.: С.А. Давыдова, Н.П. Копанева. Рос. нац. б-ка, Петровское ист. о во. Санкт-Петербург 2016, c. 40–55.

Die Erforschung Sibiriens im 18. Jahrhundert. Beiträge der Deutsch-Russischen Begegnungen in den Franckeschen Stiftungen. Hg. v. Wieland Hintzsche u. Joachim Otto Habeck. Halle 2012.

Die Zarin und der Teufel. Europäische Russlandbilder aus vier Jahrhunderten. Ausstellung in den Franckeschen Stiftungen zu Halle vom 15. März bis 18. Mai 2003. Hg. v. Hermann Goltz. Halle 2003 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 11).

Michail Fundaminski: Die Russica-Sammlung der Franckeschen Stiftungen zu Halle. Aus der Geschichte der deutsch-russischen kulturellen Beziehungen im 18. Jahrhundert. Tübingen 1998 (Hallesche Quellenpublikationen und Repertorien, 2).

 


 

Südindien

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts beabsichtigte der dänische König Friedrich IV. (1671–1730) in Tranquebar an der Südostküste Indiens eine protestantische Mission aufzubauen. Als erste Missionare wurden Bartholomäus Ziegenbalg (1682–1719)  und Heinrich Plütschau (1677–1752), zwei Schüler A.H. Franckes, nach Tranquebar (Tharangambadi) an der Coromandel-Küste entsandt. 1706 erreichten sie die dänische Handelskolonie und erlernten dort die Landessprachen Tamil und Portugiesisch, gründeten Schulen nach dem Vorbild Halles und bauten enge Kontakte zu den Menschen vor Ort auf. Ihre vielleicht größte Leistung bestand in der Übersetzung der Bibel ins Tamilische. Ziegenbalg und Plütschau waren die ersten von 80 größtenteils halleschen Missionaren, die über einen Zeitspanne von annähernd 150 Jahre nach Indien entsandt wurden – der ersten dauerhaften protestantischen Mission überhaupt. Vor Ort und in Indien überhaupt standen die Halleschen Missionare in Konkurrenz zu anderen europäisch-christlichen Missionaren, wie etwa den Jesuiten und Herrnhutern, und trugen oft genug auch Konflikte mit den dänischen, später englischen Kolonialherren aus, deren Ziele nicht deckungsgleich mit denen der Mission waren.

Viele Objekte in der Kunst- und Naturalienkammer sowie zehntausende Briefe, Übersetzungen und eine große Sammlung von Palmblatthandschriften im Archiv der Franckeschen Stiftungen zeugen von der intensiven Beschäftigung mit den indischen Kulturen, aber auch der Erforschung der Natur. Die nachweislich durch Kauf, Tausch oder Schenkung erworbenen Kunst- und Kulturobjekte sowie die gesammelten Naturalien wurden später Kernbestandteil der noch heute erlebbaren Kunst- und Naturalienkammer der Stiftungen. Die Sammlungen erfüllten dabei zwei Aufgaben: Zum einen kamen sie einem Lehrzweck nach und versinnbildlichten anhand der Vielzahl und Verschiedenheit der Objekte die Vielfalt und Größe der Göttlichen Schöpfung. Zum anderen stellten sie auch eine Leistungsschau der Mission dar und präsentierten deren Erfolge und das gesuchte Fortschreiten des Reiches Gottes in der Welt. Diese Sammlungen sowie Tagebücher und Korrespondenzen waren zugleich Quellen für die seit 1710 erschienene erste protestantische Missionszeitschrift »Hallesche Berichte«. Zu den berühmten Abonnenten zählte auch Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832). 1919 gründete sich auf dem Erbe der »Dänisch-Halleschen Mission« die Tamil Evangelical Lutheran Church (TELC). Seit 2017 hat im ehemaligen Wohnhaus des Missionars Ziegenbalg in Tharangambadi das »Museum für den interkulturellen Dialog« geöffnet. Dies ist ein Gemeinschaftsprojekt der Franckeschen Stiftungen und der Tamilisch Evangelisch-Lutherischen Kirche in Südindien mit Hilfe vieler Partner. Ziel ist, die Vielfalt der historischen Akteure, die nichtlineare Entwicklung und die  kulturellen Schnittpunkte indischer und europäischer Gesellschaften darzustellen.

Literatur

Thomas Ruhland: Pietistische Konkurrenz und Naturgeschichte. Die Südasienmission der Herrnhuter Brüdergemeine und die Dänisch-Englisch-Hallesche Mission (1755–1802). Herrnhut 2018 (Unitas Fratrum. Beiheft, 31).

Mission und Forschung. Translokale Wissensproduktion zwischen Indien und Europa im 18. und 19. Jahrhundert. Hg. v. Heike Liebau, Andreas Nehring u. Brigitte Klosterberg. Halle 2010 (Hallesche Forschungen, 29).

Heike Liebau: Die indischen Mitarbeiter der Tranquebarmission (1706–1845): Katecheten, Schulmeister, Übersetzer. Tübingen 2008 (Hallesche Forschungen, 26). Englische Übersetzung: Cultural encounters in India: the local co-workers of the Tranquebar mission, 18th to 19th centuries. Transl. from the German by Rekha V. Rajan. London, New York 2018.

Geliebtes Europa // Ostindische Welt. 300 Jahre interkultureller Dialog im Spiegel der Dänisch-Halleschen Mission. Katalog zur Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen vom 7. Mai bis 3. Oktober 2006. Hg. v. Heike Liebau. Halle 2006 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 16).

Halle and the beginning of Protestant Christianity in India. Hg. v.  Andreas Gross, Y. Vincent Kumaradoss u. Heike Liebau. 3 Bde. Halle 2006.


 

Ungarn und das Karpatenbecken

Auch im größtenteils zum katholischen Habsburgerreich gehörenden Ungarn und Siebenbürgen gewann der Pietismus eine breite Anhängerschaft. Als Vater des ungarischen Pietismus gilt András Torkos (1669–1737), der auf Anraten Philipp Jakob Speners (1635–1705) bei August Hermann Francke studierte. Er übersetzte u. a. Luthers „Kleinen Katechismus“ ins Ungarische und ließ ihn in Halle drucken. In der Folge fanden auch Franckes Schriften ihren Weg nach Ungarn, übersetzt von ungarischen Studenten in Halle. Einer der Übersetzer, János Szabó (1695–1756), eröffnete 1724 in Tschobing (Nemescsó) ein Waisenhaus nach halleschem Vorbild. Unter den vielen Pietisten des Karpatenbeckens, die in ihrer Heimat im Sinne August Hermann Franckes wirkten, ragt besonders Mátyás Bél (1684–1749) hervor. Er studierte von 1704 bis 1708 in Halle und wirkte dann viele Jahre als Gemeindepfarrer, Schulrektor und Gelehrter in Pressburg (Bratislava), das zu seinen Lebzeiten auch "Klein-Halle" genannt wurde. In die Geistesgeschichte seines Landes ging Bél als Verfasser der „Notitia Hungariae historico-geographica“, eines grundlegenden Werkes zur Geschichte und Landeskunde Ungarns, ein.

Literatur

Die Hungarica Sammlung der Franckeschen Stiftungen zu Halle. Hg. v. Brigitte Klosterberg und István Monok.

Teil 1: Porträts. Bearb. v. Attila Verók u. György Rózsa. Tübingen 2003 (Hallesche Quellenpublikationen und Repertorien; 7).

Teil 2: Handschriften. Bd. 1–2. Bearb. v. Zoltán Csepregi. Budapest 2015.

Teil 3: Alte Drucke. Bd. 1–2. Bearb. v. Attila Verók. Budapest 2017.

Historische Karten und Ansichten. Bearb. v. László Pászti u. Attila Verók. Halle 2009 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen,22).

  • weiterhin erschienen:

Ohnmaßgebliches Project. Ein Beitrag zur Reform des ungarischen Schulwesens zu Beginn des 18. Jahrhunderts.  Matthias Bel. Mit einer kommentierten Einl. hrsg. von Zsuzsanna Kiséry. Leipzig 2013 (Quellen zur protestantischen Bildungsgeschichte, 2).