Fromme Gefühle. Bilder und Texte in Büchern des Pietismus
Eine virtuelle Buchausstellung aus der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen
Eine virtuelle Buchausstellung aus der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen
Die Frömmigkeitsbewegung des Pietismus sensibilisierte die Gläubigen, ihre Haltung zu Gott in ihrem Inneren aufzuspüren und in der Gemeinschaft zu bezeugen. Die Lektüre frommer Schriften zielte auf die Stärkung des individuellen religiösen Empfindens und die Anleitung zu einem frommen, sittlichen Leben. Davon zeugen Titel wie Göttliche Liebes-Funcken oder Hertzens-Gespräch mit Gott sowie eindrucksvolle Kupferstiche. Welche Gefühle beim Betrachten der Illustrationen und beim Lesen in Büchern des Pietismus evoziert werden sollten, wird an ausgewählten Beispielen in der Kabinettausstellung veranschaulicht.
Buße und Bekehrung beschreiben einen Prozess der Umkehr und Erneuerung im Glauben zur Erlangung wahrer Gotteskindschaft. Die Gläubigen durchlebten dabei eine breite Palette von Gefühlen – von tiefer Verzweiflung bis zur reinen, vollkommenen Freude. Bekehrungserzählungen, Predigten, Gebete und Lieder begleiteten die Gläubigen mit einer »einfältigen« Sprache auf ihrem Weg zur ewigen Seligkeit. In mehrteiligen Bildprogrammen auf Titelkupfern, wie in Johann Heinrich Reitz` Historie der Wiedergebohrnen (1716) und in Johann Porsts Theologia Viatorum Practica (1722), wurden die Stationen des Heilswegs anschaulich in Szene gesetzt und sprachen Sinne und Verstand gleichermaßen an.
In der sechsteiligen Bildergeschichte in Johann Heinrich Reitz (1665–1729) Sammelbiographie Historie der Wiedergebohrnen wird der Weg des Christen von seiner Verstrickung in der Welt bis zu seiner Bekehrung und Wiedergeburt idealtypisch dargestellt. In der Bildallegorie trifft die personifizierte Seele auf die göttliche Liebe in kindlicher Gestalt mit Flügeln und Heiligenschein. Der Titel des Buches, der Kupferstich und die Beispielerzählungen vieler bekannter und unbekannter Männer, Frauen und Kinder jeden Standes sind aufeinander bezogen wie ein klassisches dreiteiliges Emblem mit Motto, Pictura (Bild) und Erläuterung. Der Titel übernimmt die Funktion des Mottos: »Wie Dieselbe [die Seele] erst von Gott gezogen [Bild I] und bekehret und nach vielen Kämpffen [Bild II] und Aengsten [Bild 3] durch Gottes Geist und Wort [Bild IV] zum Glauben [Bild V] und Ruh ihres Gewissens gebracht seynd« [Bild VI]. Die Erzählungen in dem gesamten Buch können als Deutung von Motto und Bildprogramm interpretiert werden. Der Kupferstecher Johann Friedrich Eggelhoff (1680–1731) entlehnte die Bildmotive I, II, IV und VI der frühbarocken, flämischen Emblematik in den Pia desideria des Jesuiten Hermann Hugo (1588–1629).
1. [Bildmotiv I.]
Das Bildmotiv I in Reitz` Historie der Wiedergebohrnen ist den Pia Desideria von Hermann Hugo entnommen. Die Verstrickung in der Welt wird symbolisiert durch den Narren mit seinen typischen Attributen wie Fahne, Schellenkappe und Holzpferdchen.
2. [Bildmotiv IV.]
»Die Seele vor dem Vorhang«. Kupferstich. In: Luyken, Jan: Voncken Der Liefde Jesu, [...] Den Tweeden Druk. Amsterdam: Arentsz, 1692. Das Bildmotiv IV aus Reitz Sammelbiographie wird hier in einer Adaptation des Kupferstechers Jan Luyken (1649–1712) wiedergegeben, dem Reitz eine ausführliche Biographie in seinem Werk widmet. Es erfährt eine neue Sinngebung. In der Bildsprache Hermann Hugos klagt die Seele vor dem Vorhang darüber, dass der Geliebte hinter dem Vorhang – bei Luyken eine steinerne Wand – verborgen ist. In dem Bild in der Historie der Wiedergebohrnen steht die Seele mit geöffneten Händen vor dem Vorhang, hinter dem sich der göttliche Amor verbirgt. Sie erkennt, dass das Heil nicht durch eigene Verdienste, symbolisiert durch die leeren Hände, sondern nur im Vertrauen àuf die hinter dem Vorhang verborgene Gnade Gottes zu erlangen ist.
3. [Bildmotiv V.]
»Die Nachfolge Christi«. Bild V aus Reitz` Bildprogramm ist dem ebenfalls von Reitz` verfassten Lehrtraktat Die Nachfolge Jesu Christi von 1707 entnommen und stammt von dem Kupferstecher Gabriel Uhlich (1682–1741). Die Seele steigt nackt von der Schädelstätte auf einer Leiter zum Kreuz empor und lässt alle Attribute der Welt, umschlossen vom Teufelsring der Schlange, auf der Erde zurück. Eindringlich und drastisch wird so ihre Nachfolge auf dem Leidensweg Christi sowie die im Pietismus häufig genutzte Metapher vom ,Ausziehen des alten Adams‘ als Voraussetzung der Teilhabe an der Gnade Gottes versinnbildlicht. Die auf der Erde liegenden Totenköpfe, aus denen Blüten, Ähren und Reben hervorwachsen, stehen für das neue Leben, das Tod und Teufel überwindet.
4. [Bildmotiv VI.]
»Die Sehnsucht der Seele«. Diese Sehnsucht der Seele nach den Wohnungen des Herrn im himmlischen Jerusalem steht im Zentrum des Kupferstichs und der Gebetsmeditation von Johanna Eleonora Petersen (1644–1724), die sich in ihrem Hertzens-Gespräch mit Gott auf das Herz als Sitz der gefühlten Erkenntnis Gottes und auf die eigene religiöse Erfahrung berief. Die Sehnsucht der Seele füllt das Innere vollkommen aus und wird als innere Gewissheit wahrgenommen und empfunden, auf dem unumkehrbaren Weg zum neuen Jerusalem und damit zu Gott zu sein. Petersen orientierte sich an den Pia desideria Hermann Hugos. Das hier gezeigte Bildmotiv wurde in die protestantische Erbauungsliteratur aufgenommen, variiert und umgedeutet. An die Stelle der katholischen Darstellung mit Gott auf dem Himmelsthron treten bei Petersen das himmlische Jerusalem oder schlicht der Name Jehova in Reitz` Historie der Wiedergebohrnen.
Das Titelkupfer zu Johann Porsts (1668–1728) Theologia Viatorum Practica Oder Die Göttliche Führung Der Seelen Auf dem Wege zur seligen Ewigkeit veranschaulicht in fünf nummerierten kreisrunden Bildern den Weg des Christen von seiner Verstrickung in der Welt bis zu seiner Wiedergeburt. Das Bildprogramm beruht nicht – wie bei Reitz` Historie der Wiedergebohrnen – auf der emblematischen, sondern der biblischen Tradition. Auch hier illustrieren die Kupferstiche den Inhalt des 1.700 Seiten starken Werks, die in der Titelei kurz und prägnant zusammengefasst werden: »Darinnen gezeigt, Wie der Mensch in der Sicherheit hingehet [Bild 1]/ daraus aufgewecket [Bild 2]/ vielfältig versuchet [Bild 3], in die Busse geleitet [Bild 4], und im Glauben zum Genuß aller Gnaden- und Heyls-Güter gebracht wird [Bild 5].« Johann Porst, Probst an der Nicolaikirche in Berlin, schuf diesen praxisnahen Leitfaden für den Verlag des Halleschen Waisenhauses vor allem für Prediger und christlicher Lehrer, aber auch für interessierte Seelen, die das Werk kapitelweise »mit einfältigem Hertzen durchlesen« und sich dabei »führen« lassen sollten. Dabei leistete das Titelkupfer eine erste, unmittelbar Verstand und Sinne ansprechende »Führung der Seelen«.
Während die Theologia Viatorum Practica die Gläubigen auf dem Weg zur Wiedergeburt führen und begleiten will, richtet sich Johann Porst in der Theologia Practica Regenitorum an die bereits Erweckten, die Wiedergeborenen, die auf dem Weg durch ihre Lebensalter gehalten waren, die von Gott geschickten Versuchungen und Anfechtungen anzunehmen, stetig in der täglichen Glaubenspraxis zu wachsen und in der seligen Ewigkeit vollendet zu werden. Der Kupferstich zeigt Jesus als guten Hirten, der für seine Herde aus Lämmern, jungen und alten Schafen sorgt, diese beschützt und ihr die Richtung weist, darüber im Himmel Gott Vater mit dem Lamm Gottes und den Seeligen an dem »lebendigen Wasserbrunnen«, einer immerwährenden sprudelnden Quelle als Sinnbild der Ewigkeit. Das Bild des guten Hirten dürfte für viele Gläubige tröstend und stärkend ge-wirkt haben, den beschwerlichen Weg der Anfechtungen im Glauben zu gehen und wie die Schafe in der Herde auf Gott und seine Heilsbotschaft zu vertrauen.
Das Leben in Gottesfurcht und täglicher Glaubenspraxis führten zu einer Disziplinierung der Gefühle. Heftige Affekte sollten vermieden werden, wohingegen Demut, Geduld, Selbstbeherrschung und Seelenruhe einen wahren Gläubigen auszeichneten. Das Lesen von frommen Exempelgeschichten, selbst für Kinder, Anleitungen in der rechten Lebensführung und tägliches Tagebuchschreiben dienten der Vermeidung unerwünschter Affekte.
Gottfried Arnolds Werk über das Leben altkirchlicher Vorbilder sind zwei Kupferstiche vorangestellt. Auf der linken Seite werden die Gläubigen in der Einsamkeit im Gebet zu Gott (oben) und dem Studium des Neuen Testaments (unten) in Szene gesetzt. Unter und neben dem Lesenden sind die Symbole der Welt angeordnet, von denen er sich ab und Gott zuwendet. Das ist das erwünschte Verhalten, dem die Gläubigen folgen sollen. Auf der rechten Seite ist der Weg des Lichts vorgezeichnet, der nur durch ein schmales Tor zu beschreiten ist; davon abgetrennt – im unteren Teil des Bildes – befinden sich die Wege der Finsternis und der Irrungen. Beide Wege sind flankiert von menschlichen Verhaltensweisen, Tugenden und Lastern, die entweder der Dunkelheit oder dem Licht zugeordnet werden. Dazu zählen auch Gefühle, wie z.B. Verzweiflung und Angst vs. Zerknirschung des Herzens und Freude.
Johann Jakob Rambach (1693–1735) trug Exempelgeschichten von frommen Kindern für Kinder zusammen, die das wünschenswerte fromme Ver-halten veranschaulichten und zur Nachahmung anregen sollten. Kinder lernten so, welche Verhaltensweisen im Christentum erwünscht und welche unerwünscht waren. In der Vorrede spricht Rambach die Kinder direkt an: »Ihr findet da Exempel frommer, gehorsamer, ehrerbietiger, danckbarer, barmhertziger, keuscher, demüthiger, geduldiger, ja auch solcher Kinder, die um Christi willen sich haben zu Tode martern lassen.« Gute Kinder sind also gottesfürchtige Kinder, die religiöse emotionale Praktiken erlernen, einüben und internalisieren.
Gemeinsames Beten und Singen, das Vorlesen pietistischer Erbauungsliteratur in der Hausgemeinschaft, divinatorische Praktiken, wie Losen, Däumeln oder Nadeln, dienten der Stärkung der pietistischen Bewegung und erzeugten eine emotionale Verbundenheit. Sie begleiteten den Gläubigen ein Leben lang bis zu seiner Sterbestunde. In sogenannten »Letzten Stunden«, einer beliebten Gattung der pietistischen Erbauungsliteratur, wurde das vorbildhafte Sterben der Bekehrten im Beisein ihrer Angehörigen und des Pastors als Trost und Stärkung für die Leser und Leserinnen mit bewegenden Worten dargestellt und verbreitet.
Liturgische und emotionale Gemeinschaft in der Herrnhuter Brüdergemeine
Die vier Kupferstiche zeigen die Aufnahme in die Herrnhuter Brüdergemeine, den gemeinsamen Genuss des zuvor ausgeteilten, gesegneten Brotes (Participation) und anschließende Anbetung des Herrn (Prostratio) im Rahmen des Abendmahls sowie das Liebesmahl der Kinder (Agape). Sie gehören zu sechzehn von Johann Rudolph Holzhalb (1723–1806) gestochenen Tafeln, die dem sogenannten Zeremonienbüchlein von 1757 zur bildlichen Erläuterung des Textes beigegeben wurden. Der Autor bzw. Redakteur war vermutlich David Cranz (1723–1777), einer der engsten Mitarbeiter Nikolaus Ludwigs von Zinzendorf (1700–1760). Bei dem Zeremonienbüchlein handelt es sich um eine konfessionskundliche Selbstdarstellung der Kirche der Brüderunität in Herrnhut, die über die Geschichte, das theologische Selbstverständnis, die Verfassungsstrukturen und vor allem über das liturgische Leben der Unität informiert. Dass der ausführlichen Erläuterung der Kirchenbräuche eine besondere Bedeutung zukam, zeigt sich in seiner Bezeichnung als Zeremonienbüchlein.
Zinzendorf verstand die Glaubenserfahrung als ein lebendiges Gefühl im Herzen. Seinem Ziel, dass der wahre Glaube in allen Lebensbereichen sichtbar werden musste, diente die Schaffung einer strengen Liturgie, durch die das tägliche Leben und die Rituale in den herrnhutischen Gemeinen strukturiert wurden. Nach Zinzendorfs Überzeugung war Christsein ohne Gemeinschaft nicht möglich. Der Schaffung dieses Gemeinschaftsgefühls, basierend auf emotionalen Normen, dienten die Rituale.
Tafel II. Aufnahme in die Brüder-Gemeine.
Die Aufnahme in die Brüdergemeine durch den Friedenskuss und ein Gebet auf den Knien geschah monatlich am „Gemein-Tag“ (gewöhnlich der nächste Montag nach dem Abendmahl).
Tafel X. Participation.
Zum Abendmahl gehörte der gemeinschaftliche Genuss des zuvor ausge-teilten, gesegneten Brotes (Participation). Die feierliche Durchführung des Abendmahls diente der Schaffung des Gefühls tiefer Gemeinschaft und Verbundenheit.
Tafel XI. Prostratio.
Unmittelbar im Anschluss an die Participation erfolgte die gemeinschaft-liche Anbetung des Herrn (Prostratio). Ursprünglich in der Herrnhuter Brü-dergemeine übliche freie Gebetsgemeinschaften wurden von Zinzendorf aufgrund seiner liturgisch geprägten Auffassung vom Gebet abgeschafft. An ihre Stelle traten regelmäßig im Wochenrhythmus intonierte, vorformu-lierte Gebetsgesänge, die als Litaneien bezeichnet wurden. Sie richteten sich jeweils an eines der Mitglieder der göttlichen Familie, also an Vater, Mutter (Heiliger Geist) oder Sohn. Während Mutter und Sohn im Knien angebetet wurden, erfolgte die Anbetung des Vaters in Form der Prostratio (lat. „Niederwerfen“) zum Zeichen der Demut auf dem Angesicht liegend.
Tafel XIV. Agape der Kinder.
Zu den gemeinschaftlichen spirituellen Erfahrungen der Herrnhuter Brüder-gemeine gehörte auch das Herrnhuter Liebesmahl (Agape), eine gesellige Zusammenkunft, die sich schnell zu einem liturgischen Mahl entwickelte. Sie erfuhr ihre Anregung durch Gottfried Arnolds (1666–1714) Schrift Erste Liebe der Gemeine Jesu. Die darin beschriebene altkirchliche Agape-Feier kann als eine Weiterführung der Tischgemeinschaft mit Jesus von Naza-reth angesehen werden und wurde nun auf diese Weise wiederbelebt. Nach Zinzendorfs Vorstellung war Jesus Christus das „Haupt und Ältester“ seiner Gemeinde, um den sich die Gläubigen sammeln.
(Kupferstiche aus: David Cranz: Kurze, zuverläßige Nachricht […]. [o.O.] 1757.)
Die persönliche Herzensbeziehung zu Gott spielt traditionell in der christlichen Ikonographie eine herausragende Rolle. Der Pietismus bediente sich dieser Bilder der Herzensfrömmigkeit im Kontext von Bekehrung und Wiedergeburt. Gebets- und Predigtliteratur, aber auch die darin enthaltenen Kupferstiche sollten sowohl Emotionen ausdrücken als auch bei den Betrachtenden auslösen. Das belegen beispielsweise eindrucksvoll zahlreiche Kupferstiche in Johanna Eleonora Petersens Hertzens-Gespräch mit Gott (1694). Das bildlich dargestellte Herz repräsentiert in der Regel das menschliche Herz und hält sich dabei an Darstellungstraditionen der Emblematik: Es kann etwas in seinem Inneren offenbaren oder durch hinzugefügte Attribute wie beispielsweise Flamme, Auge oder Kreuz etwas über seinen Zustand verraten. Mit Flügeln ausgestattet symbolisiert das Herz die menschliche Seele. Ein Herz mit eingeschriebenem Kreuz wiederum kann auch ein Symbol für den Glauben (an Jesus Christus) sein.
Das Frontispiz in Johann Anastasius Freylinghausens (1670–1739) Predigten über die Sonn- und Fest-Tages-Episteln ist das einzige Bildbeispiel mit Herzsymbolik, das aus der Literatur des hallischen Pietismus bekannt ist. Zu sehen sind zum einen sieben geflügelte und entflammte Herzen mit je einem geöffneten, geradeaus blickenden Auge. Jedem dieser Herzen wird durch ein Spruchband ein Name zugewiesen, wodurch diese als die Herzen bedeutender Männer aus dem Alten und dem Neuen Testament identifiziert werden können. Sie sind Übermittler des Gotteswortes, was ihre Position im Kupferstich zwischen Gott am oberen Bildrand und den Christen, dargestellt durch weitere sieben Herzen mit eingeschriebenem Kreuz am unteren Bildrand, erklärt.
Tränen, Weinen, Seufzen, Knien, Beten, Singen, aber auch Zittern und Schreien gehören zu den körperlich ausgedrückten religiösen Praktiken in der Begegnung mit dem Transzendenten, die auf biblischen Traditionen zurückgehen und die jede Generation neu verhandelt und bewertet. Im Pietismus war das nicht anders. Referenzpunkt war die persönliche Erfahrung in der Zwiesprache mit Gott, die in verschiedenen Abstufungen innerlich empfunden und äußerlich manifest werden konnte. Tränen und Weinen zählen zu den emotionalen Praktiken, die in den Büchern des Pietismus vor allem im Kontext der Buße und Sündenerkenntnis vorkommen. In seltenen Fällen, wie bei den so genannten »begeisterten Mägden«, kam es sogar zu extremen Ausdrucksformen religiöser Ekstase und Verzückung, die sich in Trance, Schmerzunempfindlichkeit und Blutschwitzen manifestieren konnten.
Von den Thränen eines bußfertigen Sünders
Luc. 22, 62.
Und Petrus ging hinaus, und weinete bitterlich.
§. 1. Mercke weiter, o Seele, wie die wahre Reue eines zerknirschten Hertzens auch wol in Weinen und Thränen auszubrechen pfleget, dessen du an dem weinenden Petro ein Exempel hast.
§. 2. Du hast hiebey zuforderst die Quelle zuerforschen, aus welcher solche Thränen fliessen müssen. Diese Quelle ist mit nichten die heuchlerische Nachäffung andrer Weinenden, da mans andern aufrichtigen Seelen nachthut, nur damit man auch für bußfertig angesehen werde, Matth. 6, 18. oder auch sonst andere betriege. Jer. 41,6.
§. 3. Auch ist es nicht die natürliche Weichmüthigkeit, da man leicht weinet und doch wol kein geistlich = und göttlich= erweichtes Hertz hat.
§. 4. Vielweniger ist es der Eigen=Sinn, Eigen=Willen und Bosheit, wie mancher nicht so wol über die Sünde, als über der Sünden Straffe weinet, oder auch darum weinet, weil er seinen Willen nicht haben kan, oder das Irrdische verlassen und verleugnen soll. Es. 15, 2.5.
§. 5. Gleichfals ist diese Quelle der Thränen nicht das blosse Gesetz. Diß fordert wol von dir Thränen, kan dir aber die rechte Thränen nicht geben, Joel 2, 12. und die es auspreßt, sind noch nicht die rechten, I Mos.27,38. I Kön. 21,27. denn sie kommen aus einem knechtischen Hertzen und sind was erzwungenes, so GOtt nicht gefället. Ps.110, 3.
§. 6. Noch sind das keine rechte Thränen, die aus dem blossen und natürlichen Andencken der überstandenen Leiden und Trübsalen bey dir entstehen möchten, oder wenn du, da dich GOtt mit leiblichen Wolthaten überschüttet, aus blosser Eigen=Liebe zu dir, häuffige Thränen vergiessest; oder wenn dich andere fleischliche Menschen trösten, und du darüber weinest.
§. 7. Die rechte Quelle der Thränen ist auch nicht der Misbrauch des Evangelii, wenn du den Trost desselben nur der Straffe der Sünden, nicht aber der Sünde selbst entgegen setzest, und über solchen fleischlichen Trost auch wol vor Freuden weinest.
§. 8. Die rechte Quelle hingegen, woraus die rechte Buß=Thränen fliessen, ist das zerknirschte, das aus liebe GOttes verwundete und zu GOtt wahrhafftig bekehrte Hertz. In diesem wircket der Heil. Geist selbst die rechte Thränen, wenn Er darin GOttes Gerechtigkeit und Liebe, und Christi Tod und Verdienst verkläret, und das alles gegen dein Hertz und Gewissen hält. Da zerschmelzet und zerfliesset das Hertz gleichsam in Thränen, und du wirst GOTT ein rechtes Thränen=Opffer. Ebr. 5, 7.
§. 9. Es wircket aber der Heil. Geist solche Thränen in dir durch das H. Wort GOttes. Das Gesetz muß das harte Hertz erst gleichsam in grobe Stücke zuschlagen: das Evangelium aber zuschmelzet es als wie ein Wachs, oder durchgiessets, salbets, erweichts und bereitets zu, daß es das Bild GOttes wieder annimmt. Ps.32, 3. Luc. 15, 20.
§. 10. Erblickest du mit Petro deinen JEsum in seinem Leiden, wie er für dich, ich sage, für dich so viel und grosse Leiden ausgestanden: und dich dabey so freundlich ansiehet, so gehest du mit Petro hinaus und weinest bitterlich.Luc. 22, 62. Da beweinest du deine Sünde, und wenn auch keine Straffe derselben wäre, weil du einen so liebreichen GOtt und Heyland, der es ohne alle dein Verdienst und Würdigkeit mit dir, seinem Feinde, so treulich meinet, damit beleidiget hast.
[…]
§. 13. Fliessen nun bey dir, o Seele, solche Thränen, so siehe zu, daß sie recht beschaffen seyn, daß sie wahrhafftig und hertzlich, Demuths und Glaubens=voll, ja auch Liebes=voll und eifersüchtig seyn. Je freyer und frecher du vorhin deine Sünden getrieben, desto milder laß aus deinen Hertzen und Augen Thränen fliessen. Doch wasche dich nicht so in deinen Thränen, als ob du durch dieselbe dich von deinen Sünden abwaschen wollest und könnest. Das sey ferne. In deines JEsu Thränen, die Er für dich so mildiglich vergossen und in seinem Blute bade dich nur getrost und beständig. Das wird deine Sünde wegnehmen. Ebr. 5,7. Luc. 19,41. Joh. 11,35.
§. 14. O Seele, bete, daß dir GOTT die rechte Thränen gebe. Im Gebet erweichet das Hertz. Je mehr du betest, je besser werden die Thränen fliessen. Schäme dich auch der Buß=Thränen nicht, ob dich die Welt gleich darüber verhöhnet. Gnug, daß deine Thränen GOtt angenehm sind. Ps. 6, 9.
§. 15. Ach mein JEsu! erweiche du mein hartes Hertz, und gib mir rechte Buß=Thränen. Blicke mich, wie dort den Petrum an, daß ich auch wie er, meine Sünden bitterlich beweine. Amen.
Quelle: Die 23. Betrachtung. Von Thränen eines bußfertigen Sünders. In: Porst, Johann: Compendium Theologiæ Viatorum Et Regenitorum Practicæ oder Die Göttliche Führung der Seelen, und Wachsthum der Gläubigen, in einem kurtzen Auszug vorgestellet.[...]. Halle: Waisenhaus, 1723. BFSt: 43 H 3
Johann Porsts (1668–1728) didaktisch aufbereiteter Text Von den Thränen eines bußfertigen Sünders steht für die strenge Observanz und Disziplinierung des Weinens im Pietismus. Tränen zählen zu den emotionalen Praktiken, die zwar zur Conditio humana gehören, aber in der frommen Lebenswelt nur geduldet und als wertvoll erachtet werden, wenn sie aus der rechten, d.h. richtigen, inneren, religiösen Haltung und Empfindung fließen und durch verbindliche Normen reguliert werden. Deshalb listet Porst zunächst auf, welche Tränen unerwünscht sind: Tränen der irdischen Rührung auf Grund einer weichlichen Konstitution, aus Heuchelei und Nachahmung, aus Angst vor der Strafe Gottes, aus Erleichterung überstandener Leiden oder aus der äußerlichen Befolgung von Gesetzen. In der Mitte des Textes, ab § 8 werden dagegen die Kriterien benannt, die »rechte« Tränen, »Buß-Thränen«, auszeichnen: Tränen aus der Erkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit und aus tief empfundener Reue, aus der Gnade Gottes, aus dem Gesetz Gottes und der Erkenntnis der Liebe Gottes gegenüber dem Sünder.
Tränen sind nach christlicher Vorstellung auf das menschliche Leben auf Erden beschränkt, weil Gott am Ende aller Tage »alle Tränen von ihren Augen« (Off. 7,17) abwischen wird. Im Paradies wird nicht mehr geweint. Deshalb heißt es auf den Spruchbändern des Titelkupfers von Friedrich Eberhard Collins (1684–1727) Exempelbuch für Kinder, Wundervoller Schauplatz der Heiligen Märtyrer (1729): »Hier weinten wir nur einen kurtze Zeit. Dort Jubilieren wir in Ewigkeit.« Nicht gerade kindgerecht – aus unserer heutigen Sicht – kontrastiert es drastisch das Märtyrertum von frommen Kindern auf einem Schlachtfeld auf Erden mit den jubelnden Chören im Himmel.
[…] Den 16. Decembr. Nachmittag als ich da ankam / fand ich die Person im Bette sitzend / und als ich sie grüssete / und ihr die Hand gab fragete ich ob sie kranck wäre? und was sie machte; Darauf sie mir antwortete: Daß ihr nichts mangelte / und über nichts zu klagen hätte / weil Sie ja GOtt bey sich hätte. Darauf ich sagte: Daß derjenige glückselig genug wäre / der in seinem Hertzen versichert sey / daß GOTT neben und üm ihn sey. Hierauf wurde sie gantz stille / und als ich ferner mit ihr redete / antwortete sie kein Wort / sondern saß mit offenen Augen gantz starre. Die Hände / als sie von mir in die Höhe gehoben wurden / fielen wieder nieder. Der Pulsus war gantz natürlich / doch etwas langsam / die respiratio libera. Ich fühlete ihr an die Augen mit den Fingern / welches geschahe ohne einzige ihre Empfindniß / und Bewegung der Augenlieder. Ferner stach ich sie mit der Nadel tieff ins Fleisch / davon ich nicht die geringste Entzückung von ihr anmerckete. Die partes extremae waren gantz natürlich warm / nach Verfliessung einer Viertel=Stunde kam sie wieder zu sich selbst / seuffzete mehrmal sehr tieff / und vergoß etliche Thränen.
Als ich sie fragete: Was ihr gewesen? und ob sie wohl gehöret / was ich mit ihr geredt? Und gefühlet / das ich ihr in die Hand gestochen? auch ob sie keine Angst am Hertzen oder Schwindel im Haupte verspürete / antwortete sie: Daß ihr über diese Worte / die ich gesprochen / gleichsam ein tieffer Schlaff ankommen wäre / welchen sie sich nicht enthalten können. Sie hätte aber darinnen grosse Freude gehabt / welche sie nicht beschreiben könnte noch dürffte / hätte aber nichts gehöret noch gefühlet / und wäre sie gantz gesund / und klagete über nichts. Nach einer kurtzen zeit / als ich wieder mit ihr aus dem Worte GOTTES / absonderlich von der Liebe JESU kräftiglich sprach / bekam sie eben diesen Affectum, bey Endigung dessen aber eine elevatio pectoris sich etliche mahl herfür that. Als der Paroxismus geendigt war / fragte ich sie: Ob sie keine Angst am Hertzen / und ihr die Brust weh thäte? weil sie ja sehr dieselbe erhoben. Darauff sie antwortete: Daß sie voll solcher Freude gewesen / daß sie gemeynet / das Hertz sollte ihr zerspringen. Diesen Paroxismum hat sie binnen 24. Stunden / me observante, wohl 12. Mahl gehabt / so wohl stehend / sitzend als liegend / und zwar allezeit / wann mit ihr kräfftiglich über GOttes Wort geredet wurde […].
In dieser Schrift werden die Äußerungen spezifischer und besonders intensiver religiöser Gefühlserfahrungen geschildert. Beeinflusst durch die apokalyptische Stimmung gegen Ende des 17. Jahrhunderts kam es zu einer Zunahme ekstatischer Erscheinungen und visionärer Erfahrungen im Umfeld der enthusiastischen Richtung des Pietismus. Am häufigsten stammten entsprechende Offenbarungsberichte aus dem mitteldeutschen Raum von theologisch ungebildeten Frauen aus sozial niedrigem Stand, die von Zeitgenossen daher auch als »begeisterte Mägde« bezeichnet wurden. Um eine solche handelte es sich bei der aus dem Armenviertel auf dem Münzenberg in Quedlinburg stammenden Magdalena Elrichs (1667–?), die ab Dezember 1691 häufige, von unterschiedlichen Visionen begleitete, ekstatische Zustände erfuhr.
Der Verfasser des Werkes, in dem neben dem Fall der Magdalena Elrichs auch andere, vergleichbare Fälle abgehandelt werden, ist wahrscheinlich der Philosoph und evangelische Theologe Gerhard Meier (1664–1723), der mit mehreren Schriften gegen die Quedlinburger Pietisten hervorgetreten ist. Das Frontispiz korrespondiert mit der barocken Titelei, aus der bereits zu erfahren ist, dass Magdalena 1699 bei ihrer Mutter auf dem Münzenberg ein uneheliches Kind geboren hatte und dabei durch eine umgeworfene Laterne ein Feuer ausgebrochen war, das sich zu einem Großbrand entwickelte. Die Abbildung unterstützt die beabsichtigte Schmähung und Verurteilung sowohl der Protagonistin als auch der von Enthusiasmus mit zum Teil radikalen EkstatikerInnen geprägten Richtung des Pietismus.