Adel und Pietismus

Vater und Sohn stehen vor der Bildungstreppe, deren 15 Stufen die notwendigen Wissensdisziplinen zeigen.

Das Untersuchungsgebiet »Adel und Pietismus« wird an der Stabsstelle Forschung seit 2014 intensiv beforscht. Die besondere Verbindung von adligem Habitus und Lebensweise einerseits und der pietistischen Nüchternheit und Innerweltlichkeit andererseits konstituierten ein Spannungsfeld mit zahlreichen Aushandlungs- und Übergangsprozessen, das im regionalen, aber auch nationalen und internationalen Bereich interessante Forschungsdesiderate offeriert.

Aktuelle Forschungen zu Adel und Pietismus an der Stabsstelle Forschung

Zurzeit sind zwei diesbezügliche Projekte an der Stabsstelle Forschung angesiedelt:

Zum einen ist dies das seit 2020 in Kooperation mit der Staatlichen Bücher- und Kupferstichsammlung im Sommerpalais Greiz sowie der ThULB stattfindende, an der FSU Jena ansässige und von der Thüringer Staatskanzlei finanzierte Projekt der Erstellung der digitalen Edition des Reisetagebuches des Reichsgrafen Heinrich XI. Reuß-Obergreiz (1722–1800). Dieser pietistisch erzogene Graf absolvierte zusammen mit seinem Hofmeister, dem Francke-Intimus Anton von Geusau (1695–1749) zwischen 1740–1742 seine Kavalierstour durch Frankreich, die Schweiz und Italien. Die Edition dieses außergewöhnlichen Tagebuchs wird nicht nur die Reiseforschung bereichern, sondern auch ein tieferes Verständnis der (pietistischen) Netzwerke und Vorstellungswelten in dieser Umbruchszeit ermöglichen (siehe hierzu: Der Graf auf Reisen. Netzwerke und männliche Weltbildung im 18. Jahrhundert. In: H-Soz-Kult, 25.01.2021).

Zum anderen wird an einer Studie zu »Mesalliancen im Pietismus« gearbeitet. Ausgangspunkt ist hier der Beitrag »Die Kirchbergaffäre. Der Hallesche Pietismus und die Problematik von Mesalliancen« in Pietismus und Neuzeit Bd. 43 (2017) von Thomas Grunewald, in dem anhand der ›ungleichen Ehe‹ der Gräfin von Kirchberg mit ihrem Hofprediger Haine die theologischen, sozialen und politischen Problematiken dieser Art von Eheverbindungen in der Frühen Neuzeit aufgeschlüsselt und vor dem Hintergrund des Halleschen Pietismus eingeordnet werden. Das Projekt zielt dabei nicht auf die in der Forschung weitreichend untersuchten ‚Mißheiraten‘ zwischen adligen Männern und im Stand unter ihnen stehenden Frauen. Vielmehr sollen hier die ungleichen Verbindungen hochadliger Damen mit nicht-adligen Männern, vor allem ihren Hofpredigern analysiert werden. Der auffällige Befund einer nicht zu verachtenden Häufung dieser Ehen im Pietismus wirft die Frage nach den Ursachen hierfür auf und lenkt den Blick auf die angeführten Rechtfertigungen der Betroffenen, die in der ständischen Gesellschaft des ausgehenden 17. und 18. Jahrhunderts mit drastischen Reaktionen rechnen mussten.  

Doktorarbeit 2020

Ende 2020 erschien die von Prof. Holger Zaunstöck mitbetreute Doktorarbeit von Thomas Grunewald unter dem Titel »Politik für das Reich Gottes? Der Reichsgraf Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode zwischen Pietismus, adligem Selbstverständnis und europäischer Politik«. In diese Publikation flossen Ergebnisse der Beschäftigung mit dem Forschungsgegenstand seit 2014 ein. In seiner Dissertation untersucht Grunewald den Einfluss des pietistischen Glaubensverständnisses des Wernigeröder Grafen auf dessen innen-, vor allem aber außenpolitisches Handeln. Hierfür hat Grunewald u. a. die Herrschaftsstruktur der Residenzstadt (Wernigerode) auf ihre pietistische Um- und Neudeutung analysiert sowie die Netzwerke des Grafen erschlossen. Als wesentliche Erkenntnis stellt er heraus, dass sich adlige, repräsentative Lebensführung und pietistischer Lebenswandel keinesfalls widersprechen mussten und die pietistischen Überzeugungen des Grafen massiven Einfluss auf dessen diplomatische Tätigkeiten ausübten.

Workshop 2018

In einem von der HiKo organisierten und in den Franckeschen Stiftungen abgehaltenen Workshop wurde 2018 der Niederadel Mitteldeutschlands in vergleichender Perspektive in den Blick genommen. Der 2019 erschienene Tagungsband  nimmt nicht nur herausragende Einzelpersönlichkeiten und Familien in den Blick, sondern fokussiert zudem auf Ausbildungswege, unterschiedliche Karrierepfade und Strategien (Stifte, Staatsdienst, Militär, Hof) sowie auf die Möglichkeiten und Beschränkungen adliger Damen.

Pietismus und Adel auf dem Tag der Landesgeschichte 2014

In Zusammenarbeit mit der Historischen Kommission für Sachsen-Anhalt wurde auf dem Tag der Landesgeschichte 2014 die grundsätzliche Frage aufgeworfen, was denn eigentlich pietistisch ist am pietistischen Reichsadel? Die Ergebnisse dieser Tagung erschienen 2016 im gleichnamigen Band und vertieften mit Beiträgen zum pietistischen Adel in Anhalt, Wernigerode, Thüringen und im Fürstentum Waldeck das Verständnis um die vielschichtigen Symbiosen der bedeutendsten religiösen Erweckungsbewegung seit der Reformation und dem deutschen Reichsadel im 18. Jahrhundert. Weitere Beiträge zur Verbindung einzelner (Reichs-)Adliger zu den Projekten und Personen des Halleschen Waisenhauses erweiterten zusätzlich die bis dato recht einseitige Perspektive auf den Untersuchungsgegenstand.

Jahresausstellung 2014 – Ausgangspunkt der Forschungen

Ausgangspunkt der Beschäftigungen mit dem Themenbereich Adel und Pietismus an der Stabsstelle Forschung war die Jahresausstellung »Mit Göttlicher Güte geadelt« von 2014, die das Thema erstmals anhand der Sammlungen des Fürsten Stolberg-Wernigerode erschlossen hat. Neben Einblicken in diese einzigartigen Sammlungen aus dem 18. Jahrhundert öffnete vor allem der Ausstellungskatalog den Blick für die internationalen Netzwerke des mit dem Waisenhaus in Halle verbundenen pietistischen Adels. Naturkundliche, zu physikotheologischen Zwecken zusammengestellte Sammlungen und pietistische Frauenorden wurden dabei ebenso verhandelt wie die netzwerkgestützte Ausweitung des pietistischen Einflusses nach Schlesien, die Verbindungen zur pietistischen Mission in Südostindien und die Umsetzung eines pietistischen, innenpolitischen Programms durch hochadlige ›Arbeitspaare‹.